Im Gegensatz zu ihrer Naturform zeichnen sich die «Crystalline Needles»-Skulpturen von Hanna Roeckle durch Reduktion und Klarheit aus. Damit einher geht eine Zielgerichtetheit, die ihnen in ihrer schrägen Disposition die Dynamik von Vektoren verleiht. Durch die Skulpturen verlaufen Linien, Flächen und Volumina sowie die vertikale und horizontale Ebene mit dem Grundriss eines verzogenen Rhomboids, wie die 3-D-Pläne der Needles zeigen. Mit den lackierten und somit spiegelähnlichen Glasfaser-Kunststoffoberflächen entfalten die Skulpturen je nach Lichteinfall ein effektvolles Spiel von changierenden Farben in Blau-, Violett-, Rosa-, Kupfer-, oder in Hellgrün- und Goldtönen. Gleichzeitig nehmen sie die Farben der jeweiligen Umgebung auf. Dadurch entfalten die schillernden Farben ihre Wirkung erst im Auge des Betrachters.
Mit den einzelnen Farbbahnen, die ein wechselvolles Licht- und Schattenspiel erzeugen, offenbart sich das Geheimnis der steten Wandlung. Dazu tragen die Reflexionen des Standortes bei, wie auch die Lichtspickel, die die Needles zu zersetzen scheinen. Dieses Phänomen bewirkt, dass die Materialität der Skulpturen transzendiert wird. Dann wieder verweisen die Skulpturen mit Blick auf ihre klar definierte Gestaltung auf sich selbst.
So blitzen im Statischen der «Crystalline Needles» immer wieder dynamische Momente auf, was den Anschein vermittelt, als ob die Bewegtheit aus sich selber komme. Die «Crystalline Needles» lassen mit ihrer emporstrebenden Ausrichtung an antike Obelisken und Stelen denken; so an die ägyptischen Obelisken oder an die Altstadt von Axum, der ehemaligen Hauptstadt des alten Äthiopiens, mit ihren unzähligen gigantischen Pfeilern aus Stein, etwa das höchste noch stehende Monument, das 20 Meter hoch ist. Während die paarweise vor Pyramiden oder Tempeln angeordneten Obelisken im alten Ägypten die steingewordenen Strahlen des Sonnengottes darstellten und als Verbindung zwischen der hiesigen und der Götterwelt fungierten, dienten die mit kunstvollen Verzierungen versehenen Stelen im Reich von Axum wichtigen Persönlichkeiten als Grabsteine. In Anlehnung an diese überirdischen Bedeutungen thematisieren die «Crystalline Needles» von Hanna Roeckle das Streben ins Unendliche und somit ins Licht. In diesem Streben klingen auch Bruno Tauts (1880-1938) Architekturvisionen aus Glas und Licht (zwischen 1914 bis 1919) an, insbesondere seine Bildfolge aus dreissig Tuschzeichnungen unter dem Titel «Alpine Architektur». Diese wiedergeben eine Bergwelt aus funkelnden Kristallarchitekturen, welche in Tauts Vision einer zukünftigen Gesellschaft, der «Stadtkrone» — verwirklicht in seinem Glaspavillon auf der Werkbund-Ausstellung in Köln, 1914 — kumulierte, die «wie ein glitzernder Diamant über allem» thront. Ohne, dass Hanna Roeckle jetzt solche Utopien im Blickwinkel hätte, zelebrieren ihre kristallinen, farbig schillernden Skulpturen ebenfalls die Symbiose von kristallinem und ephemerem Licht.
In: Hanna Roeckle. Configurations in Flow. Werke 2017-2021, Zürich, Hrsg. Hanna Roeckle + Autoren.