Sabine Hertig schafft bildgewaltige Collagen, die aus der Distanz einem wogenden, unergründlichen Bildermeer gleichen und aus der Nähe betrachtet in ihre Einzelbilder zerfallen. Im Museum Grimmwelt fragt dieser bildgewaltige Dialog mit dem Publikum nach unserem Umgang mit der täglichen Bilderflut.
So könnte die Welt nach einer Apokalypse oder nach einem Erdbeben aussehen: Chaotisch, zerstückelt und voller Bedrängnis in Dunkel und Grautöne getaucht. Gleichzeitig fühlt man sich an Bosch’sche Fegefeuerfantasmagorien erinnert. In den schwarzweissen Wimmelbildern öffnen sich Abgründe, verschliessen sich wieder, und Wege aus dem Chaos in hellere Gefilde tun sich auf. <Landschaften> nennt Sabine Hertig (*1982, Basel) ihren Werkzyklus aus monumentalen Collagen. Sie baut sie aus Abertausenden von Bildfragmenten, -fetzen aus Zeitungen, Magazinen und Büchern auf. Wie sie sagt, malt sie mit Schere und Leim. Sie klebt die Schnipsel auf einem grau-hell-dunklen Bildgrund in mehreren Schichten in- und übereinander, und sucht so nach einer malerischen Sprache. Die Einzelbilder entpuppen sich als ein Geflecht aus Leibern, Tieren und Gegenständen, aus Bilderrahmen und Tankstellen, Wohnaccessoires und Textilien. Kein Wunder, dass man immer wieder Neues entdeckt. Organische Formen bindet Hertig mitunter in architektonische Strukturen ein, um irgendwie einen Halt zu etablieren. Atmosphärisches erzeugt die Künstlerin mit den Hell-Dunkel-Kontrasten, welche eine Tiefendimension zeitigen und die Bilder als Zeitzeugen oder gar als Boten einer vergangen Zeit deuten lassen.
Seit nunmehr zehn Jahren erforscht Sabine Hertig den unerschöpflichen Bilderfundus: «Es ist die Faszination am Bild an sich, die mich antreibt, (…). Es ist auch der Versuch, den historischen, archivierten Bildern wieder einen Wert zu geben, indem sie in ein neues Ganzes eingebunden und damit in eine Zeitgenossenschaft geführt werden.» Diese Absicht bringt sie in die Nähe zur umfassenden Archiv- und Sammelarbeit der Brüder Grimm, die die Kinder- und Hausmärchen veröffentlichten und das Deutsche Wörterbuch begannen. Die Collagen <Landscape 13–19> sind in einem Raum einander gegenübergestellt. So werden verschiedene, ungewöhnliche, noch ungesehene Vorstellungen von Landschaften sichtbar. Bilden sie nun eine «Heimat» wie der Ausstellungstitel lautet oder fragen die Bildlandschaften nach der Wirklichkeit, die wir zunehmend von der Bilderwelt nicht mehr unterscheiden können? Doch was ist Wirklichkeit, wenn uns gleichzeitig bewusst ist, dass das, was wir wahrnehmen, keine getreuen Abbildungen einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit sind? Was wir sehen, ist aus neurobiologischer Sicht, etwa von Wolf Singer in «Iconic Turn», 2004, formuliert, das Ergebnis komplexer Konstruktionen und Interpretationsprozesse unseres Gehirns.
Museum Grimmwelt, Kassel, bis 26. September 2021. www.grimmwelt.de