DR.PHIl.I
KUNST- UND ARCHITEKTURHISTORIKERIN
AUTORIN
Georgette Maag

Neben der Eingangstüre der Kunsthalle Wil erblickt man verdutzt ein Rinnsal aus der Fassade dringen. Es schwillt zu einer Wasserlache an, worin sich kleine Fenster, graue Mauern und Türen spiegeln. Schon befürchtet man, dass das Wasser einem in die Schuhe dringen könnte, als das Rinnsal wieder dünner wird, sich zurückzieht und entlang der Wand scheinbar versickert. Im abgedunkelten Rauminnern vermeint man das versickerte Wasser von der Decke in eine Lichtquelle tropfen zu sehen. Während der Betrachtende noch über die raffinierten Bildtäuschungen verwundert ist, fühlt er sich in einen grün leuchtenden, bewegten See hineingezogen, von Wellen hinweggetragen und umhergewirbelt. Gespiegelt von den abgedunkelten Fenstern wird der «Tauchgang», wie der Titel der raumgreifenden Videoprojektion lautet, zu einem sinnlich erfahrbaren Erlebnis. Der Ausstellungstitel «Gezeiten» legt eine Flut nahe mit der impliziten Vorstellung, dass sich bald auch eine andere Zeitphase einstellt. So entpuppt sich die Szenerie im Obergeschoss als ein trockenes Plätzchen unter einem Giebelgebälk. Die Holzbalkenkonstruktion ist von Spinnweben überzogen, welche sich in kaum merklichen Luftzügen zitternd bewegen. Die Videoinstallation «Flugfäden» erinnert an die Atmosphäre von alten Dachböden, welche von ausgeklügelt positionierten Beamern erzeugt wird. Beim Betrachten der faszinierenden Spinnengewebe stolpert man beinahe über einen umgekippten Tisch. Dessen Tischplatte dient als Projektionsfläche für die Arbeit «Kreislauf». Sie öffnet den Blick durch ein Fenster, der dichtes, sich im Wind bewegendes Blattwerk entfalten lässt. Aufgrund von Spiegelungen hinter mehreren, sich überlagernden Ebenen ist eine Frau mit Kamera — die Künstlerin selbst — zu erkennen. Als Betrachtender rätselt man, ob sie vom Gebüsch versteckt uns filmt oder ob sie von einem verglasten Innenraum nach aussen blickt. Auch wenn die Künstlerin immer wieder Verkehrungen des Innern mit dem Aussen und umgekehrt konstruiert, schaut sie beim Filmen eigentlich von Aussen nach Innen, wo sich wiederum eine Ebene nach Aussen auftut. Mit dem Blick nach Innen und auf die alltäglichen Dinge am Rande stösst sie immer wieder auf grössere Dimensionen, die weite Assoziationsfelder bergen, und ihre Neugierde wecken und sie reizen, die Grenzen von Innen und Aussen auszuloten.

Der Blick aus dem Fenster

So ist das Motiv des Fensters als Membran von Innen und Aussen in Verknüpfung mit architektonischen Gegebenheiten ein zentrales Thema von Georgette Maag. Schon in ihrem vor zwanzig Jahren entstandenen Video «Paysage» filmte sie während dreizehn Minuten ihre Umgebung aus dem Fenster ihres Ateliers in der Cité Internationale des Arts in Paris. Mit unverändertem Blickwinkel fokussierte sie die urbane, winterliche Häuserlandschaft mit den teilweise radikalen Lichtveränderungen zwischen einer fast im Licht aufgelösten Umgebung und ihrem Versinken im Dunkeln. Still und poetisch bot sich der damalige Blick aus dem Fenster dar, lud zum Innehalten ein und erwies sich als ein idealer Verweis auf die impressionistische Landschaftsmalerei. Seither hat sich der fotografische Blick aus dem Fenster immer wieder als Anreiz und Motivierung für ihre Fotoserien oder Videoarbeiten offenbart. Es gehört zur künstlerischen Strategie von Georgette Maag, dass sie mit Fotoapparat und Videokamera ausgerüstet alltägliche, unauffällige Details einfängt und aus diesem Bilderhumus zeitlos wirkende Bildgeschichten komponiert. In diesem Bildwerdungsprozess spielt auch der Zufall hinein, insofern er überraschende, vielgestaltige Momente hervorbringt. Besonders im Hinblick auf die Arbeit «Vom Betrachten des Entschwindens» entpuppte sich der Zufall als wesentliches Agens. Denn die vier als Tischplatten platzierten Flachbildschirme zeigen je ein Video mit zufällig hingeworfenen Wassergüssen, welche unvorhergesehene Landschaften bilden und durch den flüchtigen Verdunstungsprozess eine Art Landkarte in Form von Kalkrändern hinterlassen. Da lässt sich die Künstlerin vom französischen Chemiker und Mikrobiologen Louis Pasteur (1822-1895) anregen, der sich in seinen Forschungen gemäss seinem Zitat «Der Zufall bevorzugt den vorbereiteten Geist» oft von einer Fügung leiten liess. Eine Fügung anderer Art schlug sich in der Arbeit «La Lüm» nieder, die sich auf das berühmteste Musikstück «4′33′′» von John Cage bezieht, welches bekanntlich aus vier Minuten und dreiunddreissig Sekunden Stille besteht, und somit das Paradox komponierter, völliger Stille thematisiert. Aus der Interaktion von Zeitlosem, respektive stillegelegten zeitlichen Momenten und Wahrnehmungsspielen reifen die komplexen und atmosphärisch aufgeladenen Bildkompositionen von Georgette Maag. Sie sprechen von Naturerscheinungen und Räumen samt ihren Geschichten. Dafür steht die mehrteilige Projektion «Flugfäden» exemplarisch, verknüpft sie doch die Architektur des Dachbodens mit einer Komposition aus verschiedenen, sich teils überlagernden Bewegungsrhythmen von Spinnweben und den Schatten des vorhandenen Gebälks.

in: Website Georgette Maag: https://georgettemaag.kleio.com