DR.PHIl.I
KUNST- UND ARCHITEKTURHISTORIKERIN
AUTORIN
Werner Casty — valle bollero

Werner Casty ist ein passionierter, unermüdlicher Wanderer, der meist das Bündnerland oder die Insel Elba durchstreift. Während seinen mehrtägigen Touren fotografiert und zeichnet er und trägt in letzter Zeit auch Kupferplatten mit sich. Beim Wandern, so teilt er mir mit, gewinnt er einen klaren Geist, was seine kreativen Prozesse begünstigt. Während er die Fotografien in seinen meist grossformatigen Grafitzeichnungen sehr frei interpretierend umsetzt, verfestigt sich durchs Skizzieren vorzugsweise mit Grafit eine Idee. Castys frühere Serien, etwa <Engadiner Passagen>, 2011, konzentrierten sich auf diverse, verfremdete Bergabschnitte. Während <Julier>, 2013, im Fernblick verschneites Gebirge festhält, veranschaulicht <Schnee von Gestern>, 2015/16, partiell schneebedeckte Waldstücke, Wiesen und Äcker. <Brandung>, 2016-18, ist der eindrücklichen Gewalt von tosenden Meeresbrandungen gewidmet. In der neuesten Serie <valle bollero>, 2020, erfasst Casty vornehmlich das Licht, namentlich seine gleissende Dimension mit seiner formenauflösenden Tendenz. Die Auslassungen und Leerstellen in den Zeichnungen werden durch das Licht geformt und die Motive über den Schatten definiert. Durch die überbelichtet wirkenden Zeichnungen der Serie <Valle Bollero 1>, 2019, oder <Campo alle serre>, 2020, werden die topografischen Einzelheiten, den Boden bedeckende Blätter, Äste, Erde und Steine im Licht aufgelöst. Dies führt zu einer zunehmenden, als All-Over gestalteten Abstraktion. Castys Landschaftsdarstellungen widergeben weder ideale, romantische Landschaften noch Empfindungslandschaften, sondern sie zeichnen die Veränderungsprozesse der Natur mit dem Blick eines Biologen oder Geologen auf. Dieser Effekt ist auch den akribisch ausgearbeiteten Zeichnungen zu verdanken. Die minutiös in dichten, gleichgerichteten Strichen auf weisses Papier von Fotografien oder Skizzen übertragenen Motive heben sich von leerbelassenen Stellen oder geschwärzten Flächen ab. Castys präzise und detaillierte Zeichnungstechnik erinnert an wissenschaftliche Methoden zur Untersuchung von Forschungsobjekten, etwa zur Pflanzenbestimmung. Nach dem Motto «Wie oben, so unten» entwirft der Künstler in der <valle-bolero>-Serie Welten, die noch vor dem Menschen oder schon nach dem Menschen existieren. Für das posthumane Stadium sprechen die überbelichteten, menschenleeren Kompositionen, die zuweilen den Eindruck erwecken, als würde ein apokalyptischer Sturm über die Berglandschaften hinwegfegen.

Sam Scherrer Contemporary, Werner Casty. Valle Bollero, bis 11.7.2020

www.samscherrer.ch