DR.PHIl.I
KUNST- UND ARCHITEKTURHISTORIKERIN
AUTORIN
Varlin — Vom Verschwinden der anspruchslosen Orte

Zwischen 1930 und 1960 war Varlin (alias Willy Gugenheim, 1900, Zürich-1977, Bondo GR) viel auf Reisen. Unspektakuläre, «anspruchslose Orte» hatten es ihm angetan. «Ich pflege, wenn ich in eine fremde Stadt komme, mich nach Zuchthaus, Irrenanstalt, Pferdemetzgereien zu erkundigen; dort sind die ärmsten, also malbarsten Quartiere. Dort verkehren Menschen, keine Kleiderständer.» Varlin malte Clochards, Kellner, Freunde und Verwandte und später auch Prominente. Damit schuf der grosse Menschendarsteller eine wahre Comédie humaine mit vom Leben gezeichneten, vielfach verlorenen Figuren. Diese Verlorenheit begegnet uns oft in seiner Darstellung von Bahnhofwartsälen, Cafés oder Brasseries, die von kleinen, silhouettenhaften Figuren bevölkert sind. Etwas Dunkles, Unergründliches, das viele Figuren und Porträtierte erkennen lassen, findet sich ebenfalls in den Stadtlandschaften, in den Darstellungen von Gebäuden, Fassaden und gespenstischen Interieurs. So scheint die Fassade der Irrenanstalt in Venedig, 1954, mit aus den Fenstern blickenden Gesichtern vielstimmig zu sprechen. Schon angedeutet im <Restaurant in Arles>, 1938, schafft Varlin durch leere Flächen oder stets extremere Perspektiven beunruhigende, affektiv aufgeladene Räume.

In der Ausstellung werden die motivischen und thematischen Parallelen zwischen den Werken von Varlin und Hanny Fries hervorgehoben. Ihr Bildrepertoire zeigt erstaunliche Nähe zum Werk von Varlin, zumal beide unspektakuläre Sujets poetisch überhöhen. Beide waren oft an denselben Gruppenausstellungen beteiligt und Varlin war für Hanny Fries ein grosses Vorbild. Beide gingen im Schatten der dominanten abstrakten Strömungen den Weg der figürlichen Malerei und entwickelten aber eine je unverkennbare Handschrift. Ihr Unterschied zeigt sich allerdings in der malerischen Arbeitsweise. Die Kompositionen von Hanny Fries wirken bodenlos dank ungewohnten Perspektiven, auch durch Übermalen und Wischen, wodurch die Dinge in der Schwebe gehalten werden. Bei ihrer vorherrschenden hellen Palette dominieren ungewöhnliche Zwischentöne und Kontraste von kalt und warm. Dagegen wirken Varlins Bilder in realistisch-expressivem Stil oft skizzenhaft trotz des pastosen Auftrags. Gerade die Porträts leben von karikierenden Zuspitzungen. Beide vermochten das Lebensgefühl, Stimmungen ihrer Zeit auf eindringliche Weise festzuhalten. Besonders Varlins Oeuvre kann als Psychogramm des modernen Menschen gelesen werden.

Atelier Righini Fries, Varlin. Vom Verschwinden der anspruchslosen Orte, bis 19.12.2020

www.righini-fries.ch