DR.PHIl.I
KUNST- UND ARCHITEKTURHISTORIKERIN
AUTORIN
Ungewöhnliche Sichtweisen von Landschaft

In Anbetracht der weltumspannenden Bilderflut und des raschen Wandels von künstlerischen Ausdruckformen rätselt der Kunstschaffende, ob gegenwärtig noch eine Sehnsucht nach dem Malen besteht und ob das Malen überhaupt noch zeitgemäss ist. Gerade die Landschaft ist eine Projektionsfläche par excellence, und es fragt sich, wie Landschaft heute interpretiert und malerisch dargestellt wird? Uns interessierte, wie aktuelle Bilder in Gegenüberstellung mit Landschaftsbildern aus dem 19. Jahrhundert wirken? Da bot die Sammlung französischer Landschaftsmalerei aus der Mitte des 19. Jahrhunderts von Jürg Bischofberger, dem Leiter des Kunsthauses Elsau, die Gelegenheit, zeitgenössische Maler:innen in Dialog mit dieser Kunstgattung zu bringen. Als Reaktion auf die intensive Industrialisierung Europas entstanden seit den 1830er Jahren in ganz Europa Kunstkolonien nach dem Vorbild der Schule von Barbizon. Damals wurden Barbizon und der Wald von Fontainebleau von zahlreichen Kunstschaffenden aus der ganzen Welt besucht, die bewusst ihre städtische Umgebung verliessen und in der Auseinandersetzung mit der Natur nach neuen Wegen in der Malerei suchten. Sie strebten keine einheitliche Ästhetik an, sondern ersehnten eine grösstmögliche Freiheit der Interpretation. Ihre realistische Naturdarstellung stand im Gegensatz zur klassisch-idealistischen Landschaftskomposition und beeinflusste massgeblich die Landschaftsmalerei in ganz Europa. Diese neue Sicht der bereits zum Impressionismus überleitenden Paysage intime wurde zu einem Markenzeichen der Gruppe. Ihre renommiertesten Vertreter waren neben Théodore Rousseau, dem Begründer der Malerkolonie, Constant Troyon und Charles-François Daubigny, Jean-François Millet, Jules Dupré und Jean Baptiste Camille Corot und Claude Monet sowie viele andere.

Ein wesentlicher Tatbestand in der Geschichte dieser Schule ist, dass sich die Künstler aus der Barbizon-Gruppe in Paris gegen das Abholzen grosser Teile des Waldes von Fontainebleau engagierten. Dank ihres Protestes wurde dieser zu einem der ersten Nationalparks Frankreichs. Denn bis in die heutige Zeit wurden ihre Waldbilder als Idylle gedeutet, was angesichts der bedrohten Natur auch als Fluchtmöglichkeit interpretiert werden kann.

Die acht hier präsentierten Künstler:innen interpretieren je ein Bild aus der Sammlung von Bischofberger und entfalten ein Wechselspiel zwischen damals und heute. Die Idee ist, dem Publikum und den Kunstschaffenden die Möglichkeit zu geben, einen «wandelnden Dialog» durch Zeit und Stile in der Landschaft zu führen. Entstanden ist eine Schau der Innerlichkeiten, von Wahrnehmungsspielen, von Orten der Sehnsucht, Wunschträumen oder als Austragungsort von Konflikten, welche sich in den Landschaftsbildern vom 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit widerspiegeln. Die im Folgenden beschriebenen Werke sind zusammen mit den jeweiligen Originalen in der Ausstellung präsentiert. Im Katalog jedoch sind eigenständige, neue Landschaftsbilder der Kunstschaffenden aufgeführt.

In Rafael Grassis «Landschaften» wird der Blick durch ein gelb-rot-grünes Gewirr von Schilfrohren in einen von leuchtenden Blautönen erfüllten Hintergrund gelenkt. Seine Resonanz auf «Chêne à Apremont», 1850, von Théodore Rousseau, — eine majestätische Eiche, die weithin in einer menschenleeren Landschaft thront — ist ein unbeweglich wirkender, gebrochener blauer Stängel. Er steht auf abschüssigem, dunkelgrünem Terrain und seinen linienartigen Seitenästen entspringen drei blumenartige rote Kreisformen. Ihre üppige Pracht steht in grösstem Kontrast zu den geometrisch formulierten Stängeln und der rechteckigen Unterlage. Geradezu überdimensional wirkt ihre Präsenz im Vordergrund gegenüber der zu erahnenden Weite der in die Abendsonne getauchten Landschaft.

Ebenfalls in Anlehnung an die Schule von Barbizon malt Emily Hildebrand ihr Bild «Am Zürisee», 2023, «en plein air». Geleitet von einem intensiven Heimatgefühl fühlt sie sich von der Seeansicht mit kleinen, sich im See spiegelnden Häusern und Bäumen von Jean-Baptiste Guillemets «Village en bord de rivière», 1875, angesprochen. Hildebrands Version korrespondiert mit Guillemets Gemälde im Hinblick auf einen ähnlich strukturierten Bildaufbau, wie den Blick auf das am Wasser liegende Dorf. Doch führt die moderne Überbauung am Ufer des Zürichsees eine ganz andere, rationale Zeit vor Augen als der in die Tiefe führende Blick auf eine in die Natur eingebettete Dorf-, Flusslandschaft bei Guillemet. Gemäss den Worten von Hildebrand fühlt sie sich von der Natur — als Teil von ihr — getröstet, was sie inspiriert die Landschaft mit Liebe zu malen.

Vom Ephemeren lebt Hophans Umsetzung von Alexandre Calames Gemälde «Le Haslital avant l’orage», 1840. Es zeigt eine sehr detailgetreu erfasste Berglandschaft, die den Bildvordergrund in mächtigen Diagonalen einnimmt. Da und dort verdüstern zusammengeballte Wolken die bewaldeten Gesteinsmassen, während eine dazwischen liegende Wiese durch aufgerissene Wolkenfelder erhellt wird. Die kompositionsprägenden Diagonalen übernimmt die Künstlerin in ihrer Umsetzung gleichen Titels von Calame. Mit einer iPad-Zeichnung setzt sie dem düster-dramatischen Gewitterszenarium ein luftiges Pendant entgegen. Zudem trägt die Kombination mit verschiedenen, lasierenden Ebenen zu dieser Leichtigkeit ins Bildgeschehen bei, welche eine luftig-heitere Atmosphäre erzeugt.

Recht viele Landschaften sind im Werk von Wojek Klakla vertreten. Dennoch interessiert ihn die Landschaftsdarstellung nur am Rande. Vielmehr bringt er sie in Verbindung mit aktuellen Themen, etwa mit der Flüchtlingskrise, und lässt sich meist von Fotografien inspirieren. Indem er Tragödien in Landschaftsszenerien setzt, hofft er, die vielfach schwer verständliche Gegenwart aus Distanz zu deuten. Sein Echo auf Camille Corots «Souvenir d’un voyage à Coubron», 1872, widergibt einen Mann in Hintenansicht, der ein Selfie von leicht oben aufnimmt. Sein breiter Rücken versperrt die Sicht auf die Landschaft, die nur als teilweise wolkenbedeckter, von Sonnenstrahlen erhellter Himmel erahnbar ist. Sichtbar wird so eine Spannung zwischen dem Wahrnehmbaren und dem Unsichtbaren.

Ganz im Geiste der Schule von Barbizon und der Impressionisten interessiert sich Michelle Maddox hauptsächlich für Licht, Farbe und harmonisch gefügte Kompositionen. Dies gilt besonders für ihre Version von Alexandre Calames «Etude de Rivière», um 1860, während ihr Bezug zu Camille Corots «Souvenir d’un voyage à Coubron», 1872, recht nahe am Original liegt. Ihr Bild «After Calame» bestätigt, dass sie Calames Flusslandschaft gemäss ihrer Aussage als «abstrakte Formen, Schattierungen und Töne» wahrnimmt. Hier und andernorts macht sie mit sich verändernden Ansichten desselben Landschaftsmotivs auf das Willkürliche unserer Wahrnehmungsfähigkeit aufmerksam.

Für Pierre Alain Morel beherbergt der Begriff der Landschaft einen weiten Projektionsraum. Morel interessiert sich hauptsächlich für innere Perspektiven, die uns wirklich ausmachen, zumal die Malerei auch die Kraft hat, mehr auszudrücken, als sie darstellt. Auf das Werk von Jean-Baptiste Antoine Guillemet «Les falaises de Dieppe», 1878, das steil ins smaragdgrüne Meer fallende Klippen unter einem stürmisch bewegten Wolkenhimmel darstellt, antwortet Morel mit einer vorwiegend abstrakten Komposition. Dominiert wird sie von nebeneinanderliegenden dynamischen Kontrasten, welche den Vordergrund mit Konfigurationen aus kräftigen Gesten in schwarzer, grauer und gelber Farbe einnehmen. Ein überraschendes Moment stellt die Nahaufnahme eines Wasserflugzeugs dar, das unterhalb von schwarzen, bewegten Wirbeln dahinsegelt.

Dagegen formuliert Thomas Rutherfoord eine Landschaft als Sehnsuchtsort. Er bezieht sich auf das Bild «Fôret de Bouleaux» von Léon Richet, 1869. Es stellt ein abgedunkeltes Waldstück mit glänzend schimmernden Birkenbäumen dar und dem sanft eindringenden Licht des Himmels. Rutherfoords Version zeigt dunkelbraune, braune und grüne Baumstämme, die den Bildraum rhythmisch gliedern. Tiefblaue, braune und grüne Farbflächen brechen diese Anordnung etwas auf. In diese dichte Komposition dringt aus dem Bildhintergrund heller Sonnenschein, der auch auf einen verschatteten Regenbogen fällt. Die konkret anmutenden Bildelemente evozieren ein schwingendes und transparentes Gleichgewicht der Naturkräfte.

Innere widerstreitende Stimmen und Gefühle kommen immer wieder in den Seelenlandschaften von Louis Schlumberger vor. Seine von soziokulturellen und politischen Themen inspirierten Bilder bestehen aus dem Auftrag vieler Schichten verschiedenster Materialien und gestisch abstrakt gestalteten Farbrhythmen. Aus den Schichtungen tauchen archaische, dämonische oder engelhafte Wesen auf, um gleich wieder zu entschwinden. Kein Wunder, fühlt sich der Künstler vom Werk «Allée d’arbres à Fontainebleau», 1867, von Narcisse Diaz de la Pena angezogen. Dieses dunkle Waldstück birgt eine glimmende, geheimnisvolle Tiefe und scheint durch einfallende Lichtstrahlen energetisch aufgeladen zu sein. Es ist eine Vision eines unberührten Waldes, welche Schlumberger in seiner Resonanz in dichte und unergründliche Lichtspiele überführt.

           

Die anfängliche Frage, ob die heutige Malerei nicht ein Anachronismus sei, erübrigt sich angesichts dieser reichen Palette an künstlerischen Ausdrucksweisen von selbst. Befreit von einer ästhetisch-philosophischen Diskurshoheit zeugt sie von einer ungebrochenen Freude am Malen. Stärker und relevanter erlebt derzeit kein anderes Medium ein neues Hoch. Dies ist auf Grund des boomenden Marktes mit digitalen Kunstwerken nicht selbstverständlich, wird doch der Möglichkeitshorizont der Malerei durch die Integration der Ästhetik des Digitalen erweitert. Infolge unseres wachsenden Umweltbewusstseins nimmt unser Wunsch nach Naturnähe zu, weshalb Naturdarstellungen diese Tendenz auch mit traditionellen, echten Malwerkzeugen samt dem Malprozess widerspiegeln und zudem eine dringend benötigte Fluchtmöglichkeit bieten.

Ungewöhnliche Sichtweisen von Landschaft, Ausstellungskatalog Kunsthaus Elsau bei Winterthur, 2.9. — 30.9.2023.