DR.PHIl.I
KUNST- UND ARCHITEKTURHISTORIKERIN
AUTORIN
Selim Abdullah — Mediterran

Auf dem Humus antiker Mythen erfasst Selim Abdullah in erschütternden Bildern und Skulpturen die sich täglich ereignenden Dramen im Mittelmehr. Dank der Integration von vierzig Werken in der Kunstsammlung der Heinrich Gebert Stiftung Appenzell wird ein repräsentativer Ausschnitt aus seinem Gesamtwerk gezeigt.

Ein strahlend tiefblaues Meer scheint den Betrachtenden in den grossformatigen Bildern <Cielo e acqua>, 2019, und in<Mar d’oggi>, 2017, zu locken. Beim näheren Hinsehen erkennt man ein Gewimmel von filigranen Figuren, die von wogenden Wassermassen herumgeschleudert werden, bald in einer Meeresweite in einem vollbepackten kleinen Boot eingepfercht, bald an einem Ufer gestrandet sind. Die Entsprechung des ins-Nichts-geworfen-sein, finden sich in den Bildern mit fallenden und stürzenden Menschen, in <Caduta>, <Capitomboli> und <Taucher>, alle 2018. Selbst Neptun kann nicht glauben, was er im Mittelmeer beobachten muss, <Nettuno guarda incredula>, 2015.

Der in Bagdad geborene Maler und Bildhauer Selim Abdullah (*1950, lebt seit 1981 im Tessin) zeigt unter dem Titel <Mediterran> Werke von erschreckender Aktualität in einer zeitlos gültigen Bildsprache. Sie speist sich aus antiken, mesopotamischen Bild- und Schrifttraditionen und Versatzstücken aus der europäischen Kunstgeschichte, vornehmlich der ästhetischen Tradition des Mittelmeerraums. Eindringlich widmet sich Selim der Darstellung der «condition humaine» und visualisiert die Erfahrung von Schmerz, Verlorenheit, Einsamkeit und abgründiger Verzweiflung. Auf der Bildoberfläche tauchen die Figuren als Verdichtung von Schatten und Fragmentierungen aus der Leere einer grenzenlosen Einsamkeit auf. Vibrierenden Zeichen gleich bewegen sie sich über die Bildfläche und weben Dialoge mit Körpern, Wassermassen und Licht. Verschiedene Terracotta-Figuren und -Reliefs wie <Cerchia>, 2009, erzählen vom Warten oder <Onde brune>, 2018, von der Misere auf überfüllten Booten. Da bleibt nur völlige Ergebenheit in sein Schicksal, die Selim mit in Licht getauchten Körpern festhällt, in <Vento>, 2018 oder <Ombre vaganti>, 2017.

Ursprünglich von der klassischen, der toskanischen Renaissance verpflichteten Skulptur in Bronze, herkommend, wandte sich Selim Abdullah ab 2000 der Malerei und auch der Terracotta zu. Seither thematisiert der Künstler den Mittelmeerraum mit den endlosen Erzählungen von einer modernen Odyssee. Die menschenverachtende Haltung bestimmter europäischer Länder gegenüber Flüchtlingen in Not liesse sich mit der Figur des <Narciso>, 2018, deuten, der in den Wasseroberflächen nur sich selbst spiegeln kann und sich jeglicher Solidarität mit anderen verweigert. Ganz im Gegensatz dazu spricht Selims ergreifendes Werk von einer tiefen Empathie für menschliches Leiden wie der Trauer um einen Kulturraum, der engstirnigen und eigennützigen Intentionen geopfert wird.

Selim — Mediterran, Kunstmuseum Appenzell, bis 4.Oktober 2020

www. kunstmuseumappenzell.ch