DR.PHIl.I
KUNST- UND ARCHITEKTURHISTORIKERIN
AUTORIN
Rundgang Audio Guide Schloss Tarasp Fundaziun Not Vital

Auf einem kegelförmigen Felshügel im Südwesten der Gemeinde Scuol thront stolz Schloss Tarasp und beherrscht das Tal. Nicht umsonst gilt Schloss Tarasp als Wahrzeichen des Unterengadins: Schloss Tarasp ist eine der imposantesten Burgen Graubündens und zählt zu den bedeutendsten mittelalterlichen Wehrbauten der Schweiz überhaupt. Auf den Resten eines römischen Wehrturms wurde es um das Jahr 1040 von den Herren von Tarasp erbaut, ein Geschlecht, das bereits rund 200 Jahre mit dem Tod des letzten Erben zu Ende ging.

 

Nach 1273 gelangt es aufgrund eines Verkaufs in den Besitz Österreichs, das Familien im Engadin damit belehnte. Bis ins 17. Jahrhundert war die Anlage immer wieder heftig umkämpft, bis schließlich in der Ära der Neuordnung Europas unter Napoleon auch die letzte Enklave Österreichs in der Schweiz den Eidgenossen und dem Kanton Graubünden zugeschrieben wurde.

 

Der befestigte Zugang weist viele Schieß-Scharten auf. Er führt vorbei an einer kleinen, dem heiligen Johannes von Nepomuk geweihten Wegkapelle zum unteren Tor mit Wachthaus aus dem Ende des 16. Jahrhunderts. Dieses begrenzt die mittelalterliche Burg, die sich in Unter- und Oberburg und einen befestigten Zugang gliedert. Die Oberburg nimmt das höchste Plateau des Burgfelsens ein, und besteht aus der Kernburg, einem Süd- und einem Nordtrakt, Wehrgängen und einer Zisterne. Nördlich der Oberburg erstreckt sich terrassenartig die Unterburg. Sie besteht aus Wachthaus, Pulvertürmen, Torhaus und Kapelle. Die Umfassungsmauern der Unterburg wurden spätestens um 1500 erstellt, später neu errichtet und umgestaltet. Die zahlreichen, unregelmäßig über die Fassaden verteilten Wappenmalereien spiegeln die unterschiedlichen Herrschaften über die Jahrhunderte hinweg wieder.

 

Heute gehört das stolze Schloss Tarasp dem Künstler Not Vital, der aus dem Engadin stammt, aber in der ganzen Welt zuhause ist. Ein Rundgang durch das Schloss ist eine abwechslungsreiche Reise durch die Kunstgeschichte zu der Sie Not Vital herzlich einlädt. Während Ihres Rundgangs wird der Hausherr selber immer wieder das Wort an Sie richten und seine Werke erläutern.

 

Erstes Wachthaus und Pulverhaus

Über dem Burgtor mit seinem steinernen Bogen erkennen Sie den Doppeladler, der noch von der einstigen Macht der Habsburger Herrscher zeugt. Links vom Eingang finden Sie das erste Wachthaus, das seit der frühen Neuzeit die mittelalterliche Burg begrenzt. Die Ringmauer, die sich der äußersten Felskannte anschmiegt, ist mit Schiess-Scharten versehen.

 

Die mittelalterlichen Umfassungsmauern der Unterburg wurden um 1600 neu errichtet und umgestaltet. Die Unterburg wird durch das mittlere Torhaus und das Kapellentor in drei Wehrabschnitte unterteilt und enthält unter anderem das mächtige Pulverhaus von 1716, in dem heute die Heizungsanlage des Schlosses untergebracht ist.

 

Es folgt das zweite Wachthaus, das ebenfalls aus dem Ende des 16. Jahrhunderts stammt. Es war mit zwei Sturmtoren versehen und hatte einen Zugang zum Hauptturm. Im daran folgenden kleinen Turm befand sich ein Ausgang zur unteren Zisterne. Nun beginnt der untere Wehrgang, der an die östliche Ringmauer anschließt. Am oberen Mauerrand finden Sie wieder den Doppeladler sowie das sogenannte „Bindenschild“ mit dem Habsburger Hauswappen und der darüber liegenden Inschrift «Hie Estereih».

 

Not Vital, Testicles, 1994, Plaster, 100.3 x 117.5 x 153

Tongue, 2010, Stainless steel, 540 x 104 x 111 cm

 

Die historische Bausubstanz von Tarasp steht unter Denkmalschutz, und es sind nur minimale modernisierende Eingriffe erlaubt. Not Vital arbeitet gern mit seinem Bruder Duri zusammen. In Sent, gerade mal ein paar Autominuten von hier, sind sie Nachbarn und sich auch sonst sehr nahe. Die Arbeit von Duri und seinem Büro Men Duri Arquint Architekten zeichnet sich aus durch Respekt vor der lokalen Bauweise, die historische Eigentümlichkeit der Bausubstanz und des regionalen Handwerks zur Geltung bringt. Dies zeigt sich hier im frisch gepflasterten Hof oder in der zurückhaltend erneuerten Küche.

 

Für den modernen Zungenschlag hier im Hof sorgen Not Vitals Skulpturen. Gleich zwei monumentale Plastiken verweisen auf humoristische Weise auf Michelangelo:

Die monumentale Zunge aus poliertem Stahl wurde in Nots Studio in Peking realisiert. Mit 5 Metern Höhe entspricht sie der Größe des David der Galleria dell’Academia in Florenz. Stünde der David hier im Hof, hingen seine überdimensionierten „Testicles“ etwa auf der Höhe wie ihr Gips-Imitat hier neben dem Torbogen. So werden die Proportionen der David-Skulptur in Bezug auf die Schloss-Umgebung angedeutet.

 

Deutlich wird hierdurch das Konzept von Schloss Tarasp: «Ars una Est». Es ist die Verbindung von historischen und zeitgenössischen Elementen, die aus dem Schloss ein Gesamtkunstwerk macht. Nots Vision ist es, Schloss Tarasp mit seiner behutsam modernisierten historischen Substanz, mit zeitgenössischer Kunst und dem Skulpturenpark zu einer Kulturattraktion von internationaler Bedeutung zu entwickeln.

 

Geschichte im Innenhof

Seit Schloss Tarasp 1803 dem Kanton Graubünden überlassen wurde, erfolgten etliche Besitzerwechsel. Dies bezeugen die zahlreichen, unregelmässig über das Schloss verteilten Wappenmalereien. Um 1900 erwarb schließlich der Dresdner Industrielle Karl August Lingner das Schloss. Lingner war mit der Erfindung und Produktion des Odol-Mundwassers reich geworden und liess die zerfallende Burg zwischen von 1907 bis 1916 aufwändig restaurieren.

 

Der Burgenfachmann Johann Rudolf Rahn renovierte es im Stil des Historismus und errichtete auf dem Schlosshügel eine Parkanlage. Noch vor seinem Einzug starb Karl August Lingner am 5. Juni 1916. In seinem Testament bedachte der Dresdner seinen König Friedrich August III. von Sachsen und setzte ihn als neuen Besitzer ein. Dieser schlug das Erbe aus, weil das Testament vorsah, dass er jährlich eine bestimmte Zeit auf dem Schloss hätte wohnen müssen. So gelangte das Schloss letzten Endes an den Grossherzog von Hessen.

 

Not Vital kaufte es 2016 der Familie Ernst Ludwig von Hessen ab. Unter der Auflage, dass es weiterhin öffentlich zugänglich bleibe, beteiligt sich die Gemeinde an den Betriebskosten. Heute sind besonders die Führungen durchs Schloss beim internationalen Publikum beliebt: Offenbar sprechen Vitals spielerischer Umgang mit Kunst und seine universellen Themen die Besucher*innen an. Die von Not Vital in und rund um das Schloss arangierten Werke entfalten im Dialog mit ihrer Umgebung eine enorme Wirkung – ganz gleich ob es ich dabei um seine eigenen Werke oder um Arbeiten befreundeter Künstler handelt. Kongenial tritt die zeitgenössische Kunst in Dialog mit dem historischen Mobiliar, das Odol-Fabrikant Karl August Lingner einst aus Bündner Patrizierhäusern zusammenkaufte.

 

In der Mitte des Innenhofs finden Sie einen einzelnen in Bronze gegossenen Baum. Es ist eine der ortsbezogenen Skulpturen, die Vital auf dem weitläufigen Gelände um Schloss Tarasp installiert hat. Anstelle von Blättern sind an den oberen Ast-Spitzen Worte einer Botschaft angebracht, die sich dem aufmerksamen Betrachter zu folgendem Sinnspruch des südkoreanischen Gegenwartsschriftstellers und Dichters Ko-Un fügen:

«Die Welt ist zu gross, um an einem einzigen Ort zu leben oder an drei oder vier».

Obwohl Not Vital Mitte der 1970er Jahre nach New York City zog und Zeit mit Stars wie Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat verbrachte, ist er einen eigenen Weg gegangen. Als moderner „Nomade“ reist Vital etwa zehn Monate im Jahr zwischen Brasilien, New York, Niger und China.

«Ich benutze die Welt als mein Atelier», sagt er. «Ich mache Zeichnungen in Brasilien, fertige Skulpturen in China und Italien und beschaffe Papier in Laos und Bhutan.»

Bei aller ausgiebigen Reisetätigkeit, ist Vital im Engadin tief verwurzelt. Seine Familie lebt seit Generationen hier, und er besitzt noch immer das Haus seiner Eltern in Sent. Das Territorium erweiterte er um einen bezaubernden Park mit seinen Kunstinstallationen — darunter ein Haus mit Grasdach, das auf Knopfdruck in der Erde versinkt. Im Jahr 2003 kaufte er ein fünfstöckiges historisches Haus im Nachbardorf Ardez. Es ist für die Öffentlichkeit zugänglich und beherbergt eine beeindruckende Kunstsammlung und eine der größten Bibliotheken mit seltenen Büchern und Manuskripten in romanischer Sprache.

 

Geschichte der Kapelle

An diesem Tor finden Sie die halbrund geschlossene romanische, Johannes dem Täufer gewidmete Kapelle. Die Grundmauern der Kapelle sind über eintausend Jahre alt. Ihre heutige Form erhielt sie im 12. und 13. Jahrhundert. Ihre Lage spricht für eine wenigstens partielle Befestigung der Unterburg bereits im 12. Jahrhundert. Sie weist im viereckigen, sich nach Westen leicht verjüngenden Schiff eine neue Holzdecke aus der Zeit des Odol-Fabrikanten Lingner auf sowie in der Apsis eine ebenfalls erneuerte Gewölbekalotte.

Die Wandmalereien wurden auf Anweisung Lingners stark retouchiert. Die Verkündigung in der Apsis stammt wahrscheinlich aus dem 14. Jahrhundert, und die Apostelfiguren im Schiff wurden im 17. Jahrhundert vom Schloss-Soldaten Thomas Gasser gemalt. Der zur Kapelle gehörende Glockenturm mit romanischen Doppelarkaden grenzt an die Oberburg an.

Beachten Sie auch am Eingang das Objekt der walisischen Künstlerin Bethan Huws: Eine „Wort-Vitrine“ in der steht:

«Mir persönlich gefällt die Vorstellung, dass Jesus in einem Stall geboren wurde.»

 

Der Sommer-Wehrgang, hoch über dem Tal, ist sehr offen gestaltet und gewährt zunächst einen Blick auf den Innenhof: Lassen Sie Ihren Blick wandern über eine archaisch-bewegte Dachlandschaft und den Wehrgang mit seinen alten Holzschindeln.

Herrschaftlich und atemberaubend fällt der Blick ins Tal und das Dorf Ardez. Hier befindet sich das ehemalige «von Planta»-Haus aus dem 17. Jahrhundert, in dem heute die Stiftung Not Vital untergebracht ist. Das Ziel der Stiftung besteht im Aufbau einer Bibliothek alter romanischer Schriften, die im Engadin zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert gedruckt wurden. Im Monat August ist die Stiftung öffentlich zugänglich und präsentiert Ausstellungen und Publikationen lokaler und internationaler Kunstschaffender.

Spektakulär ist der Panorama-Blick auf das idyllische Dorf Tarasp und seinen kleinen See. Erkennen Sie die große Kugel aus Edelstahl? Dies ist Not Vitals Skulptur „Moon“. Sie wirkt mit ihrem Durchmesser von drei Meter zwanzig äußerst massiv, schwimmt aber auf der Oberfläche des See-Wassers, denn sie ist innen hohl. Mit ihren Kratern erscheint sie uns wie ein vom Himmel gefallener Mond.

Mit seiner Umgebung tritt er in Resonanz und reflektiert durch den Spiegeleffekt seine Umgebung. Er steht charakteristisch für Not Vitals «surreal-minimalistische Bildsprache, die Traumbilder evoziert und in seinem Werk sehr bedeutsam ist. Schließlich ist der Künstler, wie er selber von sich sagt, ein Träumer:

«Ich mag es, Träume zu verwirklichen. Und ich möchte anderen die Chance geben, auch zu träumen.»

 

Karl August Lingner hatte sich vorgestellt, dass im Schloss alle denkbaren Bedürfnisse befriedigt werden sollten. Diese beiden nebeneinander liegenden Räume richtete er als Räume für den Coiffeur und den Fotografen ein.

Not Vital interpretierte den Coiffeur-Raum nun spielerisch neu: er liess ihn mit weissen, synthetischen Haaren auskleiden, in der Mitte des Raums den historischen Frisörstuhl neben einen hohen Wandspiegel platzieren. Gegenüber ist ein ausladendes weisses Keramik-Lavabo mit alter Armatur eingebaut. Das extravagante Interieur kontrastiert mit dem schlichten Tannenriemenboden.

Daran schliesst der Fotografieraum an, der achtzig alte gerahmte Fotografien des Engadins beherbergt. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes ruhen alte Fotoapparate, die auf die Entstehungszeit dieser Aufnahmen verweisen.

Neben Albert Steiners «Hirtenbub», Emil Meerkämpers «Heuernte bei Sils» und Francis Frith’ «St. Moritz und Maloja Pass» stammen die Fotografien von Johann Feuerstein. Im Engadin war Feuerstein eine Instanz. Als er 1946 mit 75 Jahren verstarb, hinterliess er ein einmaliges fotografisches Werk, das weit über die Grenzen des Engadins bekannt war. Schon im Alter von 15 Jahren kam Johann Feuerstein zum renommierten Fotografen Flury nach Pontresina in eine zwölf Jahre dauernde Lehre. Später eröffnete der frisch gebackene Fotograf ein Fotogeschäft, das heute noch besteht. Seine Nachkommen entwickelten seine Karriere weiter, wie sein Enkel Mic Feuerstein, der als selbständiger Programmitarbeiter beim Televisiun Rumantscha arbeitete und viele Tier- und Naturdokumentarfilme drehte.

Johann Feuerstein wollte das Engadin nicht nur von der piktoralen Seite zeigen, sondern hielt in minutiös kalkulierten Kompositionen die Bauern und die Jäger seiner Zeit, sowie die Natur und den gesellschaftlichen Fortschritt mit dem Bau der Albulalinie fest. Im Jahre 1919/2020 wurden seine Fotografien in der Curuna Ardez von seiner Urenkelin Seraina Feuerstein nach 70 Jahren wieder einmal ausgestellt. Eine grossformatige Fotografie zeigt einen Jäger mit zwei erlegten Gemsen an einer Wand stehend. Genau dasselbe Motiv begegnet uns in der Fotografie «Florio Puenter» mit Not Vital, wie er an der Seite einer erlegten Gemse steht.

 

Not Vital: Contemporary Art

Mit Vorliebe sprengt Not Vital die Grenzen der Architektur sowohl in formaler als auch in funktionaler Hinsicht. Viele seiner ortsspezifischen Skulpturen oder Habitate, so seine verschiedenen «Houses to Watch the Sunset»-Türme, sind Räume, die man betreten und notfalls auch darin übernachten kann. Seine Habitate sind über fast alle Kontinente verstreut: vom Niger, Tonga bis nach Brasilien, bald in der Mongolei und nun auch in Tarasp. Auf manche Werke kann man hinaufklettern, wie beim «House to Watch the Sunset», das ein Schlüsselwerk ist. Eine Variante steht seit letztem Jahr auch auf dem Terrain von Schloss Tarasp. Der Bau besteht aus Beton, ist dreizehn Meter hoch, dreistöckig und über drei Treppen erreichbar. Während die Variante in Niger aus Lehm besteht, ist der Turmbau in Brasilien aus Holz gefertigt.

Diese skulpturalen Modelle erinnern an das Zikurrat, einem gestuften, sumerisch-babylonischen Tempelturm etwa aus dem 5. Jahrtausend v. Chr. Die Gemeinsamkeiten aller Zikkurate von Babylon über Assyrien und Elam bestehen in der Stufenform und in zwei Hauptbaukörpern, nämlich einem Mantel und einem Kern.

Für die Verschmelzung von Skulptur und Architektur hat Not Vital den Begriff «Scarch» geprägt. Wie der Begriff nahelegt, handelt es sich um eine Kombination aus «Sculpture» und «Architecture». Diese Wortschöpfung verdeutlicht Nots Faszination für Häuser als Orte, die über den reinen Zweck des Wohnens hinausgehen.

Not Vital ist sehr angetan von der historischen Einrichtung in seiner Residenz. Besonders Karl August Lingner hatte das von ihm mit riesigem Aufwand renovierte Schloss mit historischem Mobiliar ausgestattet. Er verbrachte Jahre damit, Möbel und Türen aus Patrizierhäusern in ganz Europa zu beschaffen. Sehr beachtenswert ist diese seltene Engadiner Truhe aus dem 17. Jahrhundert, die vermutlich einer Heilerin gehörte. Auf der Frontseite erkennen Sie die schwarz eingerahmten und eingekerbten Zeichnungen eines Teufels, eines Bären und eines Idioten. Sie dazu dienten, böse Geister zu vertreiben.

Oberhalb der Truhe hängt ein Ölbild von Not Vital. Es stellt ein fast schwarzes, etwas auratisches Gesicht dar, das von einer hellgrauen Aura umgeben ist und sich vom hellen monochromen Hintergrund abhebt. Not Vital hat etliche solcher auratischer Gesichter gemalt, namentlich Selbstporträts.

«Clay» lautet der Bildtitel und bedeutet Lehm oder Ton und ist seiner Materialität entsprechend nur ansatzweise geformt. Daher lässt sich sehr viel in ein solches Gesicht projizieren. Ein Lehmgesicht liegt ja noch im Unbestimmten, es ist noch nicht vom Leben gezeichnet und noch sehr formbar. Ihm liegen fast unbegrenzte Möglichkeiten inne. Das Bild steht in Beziehung zu einer Fotografie von 2012, die Not Vital in seinem Studio in Peking am Porträtieren von Ai Weiwei zeigt. Sie gibt den Blick auf das fast vollendete Werk frei und es ist dasselbe Porträt wie dasjenige, das wir hier sehen. Das Porträt des Porträtierten lässt die Nähe zwischen Künstler und Dargestelltem spürbar werden.

 

Contemporary Art: Francesco Clemente

Hier sehen Sie ein Porträt von Not Vital, das Francesco Clemente 2011 schuf. Auffallend sind die ausdrucksvollen, glänzenden Augen, die den Betrachtenden fixieren; ebenso die lange, schmale Nase wie auch die markante, hohe Stirn, die von aufstehenden Haaren umkränzt wird. Das Werk ist typisch für Francesco Clementes Stil. Der italienisch-amerikanische Künstler wurde in den 1980er Jahren mit seinen neo-expressionistischen Werken international bekannt. Seine Bildsprache lebt von archaischer Mystik, Fabeln mit operesken Motiven und trivialen Alltagsszenen. Sie wechselt von heftigen, expressionstisch anmutenden Farbnuancen zu reduzierten Erd- und Olivtönen. Bis heute hat Clemente durch das Aufzeichnen des geistigen und gesellschaftlichen Lebens New Yorks und durch eine grosse Anzahl von Porträts zur Wiederbelebung des Genres beigetragen.

Neben Sandro Chia, Enzo Cucchi und Mimmo Paladino ist er einer der Hauptvertreter der postmodernen italienischen Transavantgardia. Er wurde 1952 in Neapel geboren und studierte Architektur an der Università degli Studi die Roma. 1973 reiste er nach Indien und arbeitete mit indischen Künstlern zusammen. 1981 zog er nach New York City und beteiligte sich an Projekten mit Andy Warhol, Jean-Michel Basquiat und Allen Ginsberg und dort begegnete Francesco Clemente auch Not Vital. Beide mögen bald Gemeinsamkeiten entdeckt haben; etwa in ihrem Interesse für eine nomadische Lebensweise, der Faszination fürs Archaische und in der Vorliebe für surreale Motive.

 

Die diversen Stadien der wechselvollen Historie von Schloss Tarasp sind hier von verschiedenen Fotografien, Drucken und Aquarellen illustriert.

Beachten Sie diesen Stich des 19. Jahrhunderts, der Tarasp mit Schloss und den Dorfteilen Funtana und Sparsels wiedergibt. Dann eine Fotografie um 1916, die Schloss Tarasp vor der Renovation erfasst. Weiter ein Aquarell von ca. Ende 18. Jahrhundert stellt die Burg von Osten mit einem Hirten und weidenden Kühen am Taraspsee dar. Entlang des Schlossaufganges erkennt man Bauern, Kühe und Schafe hochgehen. Das Schloss auf dem kegelförmigen Felshügel erstrahlt wie eine helle Krone über dem Tal. Dies hält auch eine Aufnahme von Johann Feuerstein von ca. 1930 eindrücklich fest. Sie zeigt eine Dorfansicht mit einem Brunnen, während im Hintergrund das weisse Schloss wie eine Verheissung leuchtet.

 

Geschichte: Soldatenküche mit offenem Feuer

Hier befinden wir uns in der ehemaligen Soldatenküche. Der Begriff ist etwas irreführend, denn hier wurde nicht gekocht für die Soldaten, sondern in einer grossen Küche im Untergeschoss. Die Töpfe wurden in die Soldatenküche hinaufgetragen und über einer offenen Feuerstelle warmgehalten. Die Soldaten kamen von aussen über eine kleine Treppe in besagte Küche, nahmen die Mahlzeiten entgegen und assen sie im Hof oder in den Wehrgängen.

Gerade unter diesem Raum befindet sich die grosse Zisterne, die damals lebenswichtig war. Im Fall von Belagerungen konnten die Bewohner diese acht Meter tiefe Zisterne durch ein System von Holzrohren nutzen. Durch sie wurde das Wasser von den Dächern gesammelt und in die Zisterne geleitet.

 

Contemporary Art in der Soldatenküche: Daniel Spoerri

Oberhalb der kunstvollen Truhe hängt ein typisches Fallenbild von Daniel Spoerri. Es ist Not Vital gewidmet und entstand 2005, als die beiden Künstler hier miteinander speisten. Die Überreste ihres Nachtessens fixierte Spoerri auf ein Brett und betitelte dieses Geschehnis mit «Spaghetti, aglio e olio, Tignanello». Daniel Spoerri ist einer der bedeutendsten Vertreter der Objektkunst und Mitbegründer der Künstlergruppe Nouveau Réalisme. Als Erfinder der Eat-Art entwickelte er seine «Fallenbilder», mit denen er weltbekannt wurde. Wie hier sind dies auf Tischplatten fixierte Gegenstände einer zufällig vorgefundenen Situation wie Arbeitstisch oder Flohmarktstand. Sie dienten ihm, ein Stück Alltagswirklichkeit oder Zufälle einzufangen. Spoerri machte nicht nur mit diesen Assemblagen von sich reden, sondern auch mit einfallsreichen Aktionen und Projekten, wie mit seinem berühmten Skulpturenpark in der Toskana, den er 1997 eröffnete.

Andy Warhol: Cow, 1971

Unübersehbar sind die vier grossformatigen Prints von Andy Warhol über dieser alten geschnitzten Sitzbank. Sie stellen einen bunten Reigen von vier Kuhköpfen dar, und nehmen Bezug auf den Galeristen Bruno Bischofberger. Dieser hatte das Vorkaufsrecht bei Warhol inne und war damit sein wichtigster Händler. Andy Warhol ist wohl der bedeutendste Vertreter der amerikanischen Pop Art. Von Hollywoodstars wie Elisabeth Taylor und Marilyn Monroe, Comic- und Cartoonfiguren wie Micky Maus, Popeye oder Superman entwarf er Porträts und kombinierte sie mit Siebdruck. Nach dem Motto «30 sind besser als eine» druckte er so unter anderem das weltberühmte Porträt der Mona Lisa dreissigmal auf eine Postkarte. Schon vor der Gründung der «Factory», also einzelnen Ateliers in New York, galt Warhol als gefeierter Künstler. Von nun an wählte er vor allem 100 mal 100 Zentimeter grosse Leinwände, auf denen er Prominente abbildete und Siebdruck-Serien wie etwa «Electric Chair» produzierte.

Richard Long: Engadin Circle, 2014, Photograph and handwritten text on paper

Mit Not Vital ist auch Richard Long befreundet, einem britischen Land-Art-Künstler. Hier sehen Sie die Papierarbeit «Engadin Circle». Sie entstand 2014, als Richard Long einen Bergspaziergang im Unterengadin von Tschlin nach Zuoz unternahm, der sechzehn Tage dauerte. Sein künstlerisches Werk umfasst konzeptionelle Wanderungen in allen Teilen der Welt, die er wie hier fotografisch und textlich dokumentiert. Im Laufe solcher Wanderungen schafft er temporäre Stein- oder Holzskulpturen, die häufig nach der fotografischen Dokumentation wieder entfernt oder der natürlichen Verwitterung überlassen werden.

 

Empfangszimmer

Das Empfangszimmer ist eine bemerkenswerte Täferstube mit Täfer aus dem 15. Jahrhundert aus dem Tirol. Achten Sie auf die Embleme und Wappen, die Oesterreich, Tirol und Sachsen repräsentieren. Unterhalb der neuen Decke sind die Namen der früheren Schlossbesitzer und -verwalter als Fries mit der Jahreszahl 1753 aufgeführt. Dies ist eine sehr anschauliche Art, die Geschichte des Schlosses Revue passieren zu lassen.

 

Geschichte des Damen-Badezimmers

Auf Initiative von Karl August Lingner wurde dieses Damen-Badezimmer installiert. Wie es dem damaligen Geschmack des Bürgertums entsprach, ist es luxuriös ausgestattet und mit wunderbaren Delfterkacheln und Malereien verkleidet. Neben einer Vignette von Schloss Tarasp zeigen die Malereien idealistische, königsblaue Landschaften in anakreontischer Manier. Diese ist eine nach dem altgriechischen Lyriker Anakreon benannte Stilrichtung der europäischen Dichtung Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie schlug sich auch in der bildenden Kunst nieder; prototypisch dafür stehen die «Fêtes galantes» von Jean-Antoine Watteau, mit denen er eine neue Bildgattung schuf. Sie ist verspielt-galant und kreist um die Themen Liebe, Freundschaft, Natur, Wein und Geselligkeit. Mit der Wandverkleidung stimmen sehr schön das jugendstilhaft gestalte Lavabo, der Spiegel, die daneben positionierten Lampen-Appliken und das oberhalb liegende ovale Fenster überein.

 

Dieses Schlafzimmer war nur den Damen gewidmet. Es wirkt etwas düster und ist mit einer Samttapete aus Genua bespannt. Das Bett stammt ebenfalls aus Italien. In der neuen Holzdecke sind nach einer Idee von Karl August Lingner 21 weibliche Tugenden in Lateinisch und Goldschrift eingelassen, wie «Fidelitas, Amoenitas, Hilaritas, Benignitas, Venustas». Damit sind Treue, Reiz, Lieblichkeit, Heiterkeit, Güte und feines Benehmen gemeint.

Not Vital plant nun eine kecke Neuinterpretation dieser Begriffe und will sie in farbiges Neon setzen. Dies wird dem Zimmer gewiss eine heitere, luftige Atmosphäre verleihen.

Der Rundgang führt Sie nun zurück in den Musiksaal.

 

Geschichte Musiksaal:

Sie befinden sich nun im Musiksaal. Äußerst kunstvoll ist der aus Carrara-Marmor bestehende Florentiner Kamin mit Hochreliefs aus dem 16. Jahrhundert, welche Allegorien der Musik darstellen. Die prächtigen barocken Spiegel stammen aus Italien und Frankreich. Die Kassettendecke im flandrischen Stil ist eine Stuck-Kopie. Das Original befindet sich im Audienzsaal des Schlosses Jever in Friesland und ist eine Arbeit des Antwerpener Meisters Corneliss Floris. Hören Sie hierzu ein Grußwort von Professorin Antje Sander, Direktorin des Schlossmuseums Jever:

«Die Kassettendecke datiert aus der Zeit zwischen 1560-1564. Ihr Schnitzwerk erstreckt sich über die etwa 80 Quadratmeter große Deckenfläche mit beeindruckender Vielgestaltigkeit. Umrahmt von angedeuteten geometrischen Leisten und Bändern, verwoben mit Laubwerk und Fruchtschnüren, überziehen exotisches Getier, Fabelwesen, Grotesken und Mischwesen, halb Mensch halb Tier das Gebälk. Die qualitativ recht unterschiedlichen Partien deuten auf mehrere Ausführende hin. Die Gliederung in 28 quadratische Felder mit abgestuften Profilierungen, von denen der mächtige Eierstab der auffallendste ist, und der kräftige kelch- und rosettenartige Zapfen in der Mitte ermöglichen einen einheitlichen Gesamteindruck. Durch ihre Reise in die Niederlande und den flämischen Raum war Fräulein Maria in Kontakt mit der niederländischen Renaissance gekommen. Hier sind auch die Vorbilder für die Kassettendecke zu suchen.

Renaissance bedeutet Wiedergeburt. Diese Kunstströmung, die im 15. Jahrhundert von Italien ausgehend im 16. Jahrhundert ganz Europa erfasste, ließ Elemente der Kunst der Antike wiederaufleben. Auch die Kassettendecke zeigt neben dem sogenannten Eierstabrelief, dass wegen seiner eiförmigen Rundungen sogenannt wird und viele antike Tempel ziert, auch Fabelwesen. Ein Satyr, etwa auf der Höhe des Katharinenportraits beispielsweise, ist ein in der griechischen Mythologie bekannter Naturdämon. Halb Tier halb Mensch ist er ein wilder, ungezügelter, übermütiger Geselle im Gefolge des Weingottes Dionysos. Auch hier präsentiert er sich als bocksbeiniges, lüsternes Wesen.

In den Niederlanden, die auch für die Entstehung der Kassettendecke in Jever um 1560 prägend war, wurden auch eigenständige antikisierende Formen entwickelt, wie Grotesken oder die „gefangenen Wesen“ – Figuren, die in Leistenkonstruktionen eingeschlossen sind. Die jeversche Decke zeigt Elemente des sogenannten „niederländischen Floris-Stils und weist Rückgriffe auf die Arbeiten von Cornelis Bos und Vredman de Vries auf. Sie steht damit künstlerisch auf der Höhe der Zeit, ist gleichsam „modern“ und in der Funktion des Saales entsprechend unübersehbar repräsentativ.»

 

Geschichte: Orgel und Flügel

Karl August Lingner war ein passionierter Musikliebhaber. Daher liess er 1916 im ehemaligen Waffensaal eine kunstvolle, mit Druckluft betriebene Konzertorgel des Dresdner Orgelbaubetriebs Jehmlich einbauen. Zwischen 1992 und 1993 wurde sie restauriert. Heute gilt sie in Europa als die grösste Orgel in Privatbesitz. Durch die halb offenen Ornamente ertönt der Klang dieser Holzorgel mit 3000 Pfeifen über drei Geschosse hinweg. Er ist so gewaltig und durchdringend, dass es sich anfühlt, als würde alles im Raum vibrieren. Dieses Phänomen widergibt Lingners Vision eines «klingenden Schlosses». Immer wieder finden in diesem Musiksaal Orgelkonzerte statt. Sogar der englische Komponist und Pianist Benjamin Britten kam nach dem Tode von Karl August Lingner nach Schloss Tarasp, um hier zu spielen. Seine Kompositionen umfassen Orchester- und Kammermusik, vor allem aber Vokalmusik (Opern, Lieder, Kompositionen für Chor). Zu seinen bedeutendsten Werken zählen die Serenade für Tenor, Horn und Streicher sowie die Opern Peter Grimes und A Midsummer Night’s Dream.

 

Contemporary Art (Musiksaal)

Frank Stella, Pantjoran, 2008, Edelstahlrohre, Carbonfaser

Das ungewöhnliche Objekt, das Sie hier sehen, hat der amerikanische Künstler Frank Stella in jahrelanger Forschung ausgetüftelt. Es heisst «Pantjoran» und bezieht sich als Teil seiner Scarlatti-Series auf die historische Orgel. Stella war schon lange auf der Suche nach einer neuen malerischen Ausdrucksform als Synthese von Malerei, Skulptur und Architektur. Seine Bewunderung für den Barockkomponisten Giuseppe Domenico Scarlatti verleitet ihn zur Frage, ob er Hunderte Variationen über Geschwindigkeit und Malerei im Raum erzeugen könne. Dabei lehnt er sich an Goethes Maxime an, dass «Architektur gefrorene Musik» sei. Er imitierte Scarlattis Musikstücke, indem er sich der katalogisierten Cembalosonaten von Scarlatti bediente. Zunächst fertigt Stella von Hand ein paar musiknotenähnliche Formen an, die er dann digital einscannt. Einige Formen stellt er über einen 3D-Drucker in einem weissen Harz her und giesst andere Teile in Edelstahl; oft lackiert er sie mit herkömmlichem Autolack. Auf diese Weise revolutionierte Frank Stella mit 3D-Druck, modernster Software und Barockmusik die Malerei, die nicht mehr Darstellung sondern objekthaft ist.

Not Vital begegnete in seiner New Yorker Zeit auch Jean Michel Basquiat, der ihm 1981 diese Zeichnung eines hingekritzelten Astronautenkopfes widmete. Basquiat war damals einer der schillerndsten Künstler. In nur acht Jahren hatte er ein einzigartiges, expressiv-fiebriges Werk geschaffen, das von Rhythmen und Jazzimprovisationen lebt. Not war von Basquiat inspiriert und entwickelte eine plastische Bildsprache, die auf einen archaisch-mythisch und fantastischen Bilderschatz zurückgeführt werden kann. Das grossstädtische Umfeld von New York sensibilisierte Not Vital besonders für die archaische Dimension der heimatlichen Landschaft. Trotz allen fremden Impulsen bleibt die landschaftliche Prägung seiner Bergwelt und die existentielle Verbindung von Mensch und Tier für Not Vitals Kunst zentral. Seine Darstellungen wirken urtümlich und beziehen sich auf einfachste Erinnerungsbilder aus seiner Jugend und Kindheit.

Franz West o.T:, No. 53, 2007

Das in der Ecke stehende Objekt erinnert an eine Stehlampe. Es ist jedoch eine Lichtskulptur von Franz West. Dafür nutzte der Wiener Künstler Plastik, Metall, Eisen, Kabel und Neon, wobei die einzelnen Elemente ineinander verschweisst sind. Damit wird eine gewünschte Stabilität erreicht. Franz West wurde vor allem durch seine Skulpturen und Rauminstallationen berühmt. Neben diesen Werken schuf er aber auch zahlreiche Objekte, welche im Grenzbereich zwischen Kunst und Design liegen. Sein Werk ist beeinflusst von der Aktions- und Performancekunst der 1960er Jahre. Dadurch angeregt, lehnte Franz West die traditionelle passive Kunstbetrachtung ab. Dagegen schuf er Werke als soziale Erfahrungen, wie seine in den 1970er Jahren begonnenen «Adaptives». Dies sind kleine Skulpturen, wie Stühle, Lampen und Tische, die herumgetragen und benutzt werden können. Franz West ist auch bekannt für unverwechselbare Collagen, welche übermalte Zeitschriftenausschnitte, Anzeigen und pornografische Bilder zu einem absurden Effekt mischen. Oder man denkt auch an seine sperrigen Skulpturen aus Schaumstoff, Pappmaché und Karton, die auf die expressionistische Malerei verweisen.

 

Not Vital im Musik-Saal: Selfportrait as a Rice Farmer und als «My Tai Chi Teacher», beide 2010

Hier begegnen wir zwei verschiedenen Arten von Porträts; einmal in malerischer und ein andermal in skulpturaler Form. Sowohl das Selbstporträt von Not Vital als auch das Porträt seines Tai Chi Lehrers erscheinen vor einem monochromen Hintergrund und sind durch frontale Perspektiven charakterisiert. Neben dem Selbstporträt als Reisbauer stellte sich Vital in verschiedenen Rollen dar, bald als Nordkoreaner, bald als chinesische Sängerin, bald als Giraffe. So zeigen die meisten Selbstporträts Not Vital in Verkleidung. Auffallend ist, dass ihnen etwas Unbestimmtes anhaftet. Darin fand er die adäquate Form, verschiedene Identitäten anzunehmen und in diverse Rollenmuster zu schlüpfen.

 

Velasquez, und Picasso, beide 2 Silver Boxes, beide 2012

Not Vital ist schon seit längerem bestrebt, Malerei und Bildhauerei zu einer Synthese zu bringen. Er schuf zwei skulpturale Porträts, die abstrakt und anthropomorph sind. Sie bestehen aus Silber und sind von Tuareg-Silberschmieden angefertigt. Ursprünglich wollten die Handwerker eine Schachtel herstellen, die auch eine Funktion einnimmt. Es leuchtete ihnen nicht ein, warum ein Schweizer Künstler einfach nur eine silberbeschlagene Box haben wollte. Daher füllten sie die Schachteln mit Knochen und haben nun eine Funktion.

 

Von hier gelangen wir gleich nebenan in den Speisesaal. Seine Türen sind mit kostbaren Einlegearbeiten geschmückt, welche architektonische, klassizistische Szenarien zeigen. Die komplexen Schlösser weisen eine raffinierte Mechanik auf und zeugen von einer wertvollen Schmiedearbeit. Die Täferungen und die Kassettendecke des 16. Jahrhunderts stammen aus dem Herrensitz Enticlar bei Kurtatsch im Südtirol.

Bitte beachten Sie besonders die wertvolle Wappenscheibe, die im kleinteiligen Fenster des Erkers auf der Westseite eingelassen ist. Sie wurde 1517 von Hans Ortl, dem «Baumeister zu Einsiedeln», gefertigt, und stellt einen Ritter in voller Rüstung dar. Stolz hält er in der rechten Hand eine Hellebarde und in der linken den Helm und sein Schutzschild.

 

Antike Kunst im Speisesaal

Hier sehen wir eine Reihe von antiken chinesischen und japanischen Keramikobjekten, die aus der Schenkung der Basler Familie Miescher stammen. Oberhalb der prächtigen Eingangstüre mit einem geraden Türsturz thront ein chinesischer Wächterlöwe in türkisfarbener Keramik. Auf den umlaufenden Kranzgesimsen können wir eine Drachenfigur mit einem Reiter aus der Mongolei entdecken, sodann einen auf einem Löwen sitzenden Buddha aus weisser Keramik. Diese wunderbaren Figuren sind in die Han- und Ming-Dynastien zu datieren. Flankiert werden sie von zauberhaften japanischen Objekten aus Keramik, die Tänzerinnen, Musiker und Vasen darstellen.

 

 

Not Vital: Tamangur, 2007

Seit der Unterengadiner Dichter Pieder Lansel 1923 in einem berühmt gewordenen Gedicht den sterbenden Wald von Tamangur mit dem damals verschwindenden Rumantsch verglichen hat, ist «Il God da Tamangur» mehr als nur der höchstgelegene reine Arvenwald Europas. Er befindet sich ganz hinten im Val S-charl und ist für die romanische Kultur und Sprache ein Symbol für Hartnäckigkeit, Überlebenswillen und Stärke. Der Arvenwald «God da Tamangur» ist der höchstgelegene geschlossene Arvenwald Europas. Die letzten Bäume sind bis auf eine Höhe von 2320 Meter ü. M. zu finden. Der God da Tamangur ist nicht nur ein sehr wertvolles Waldökosystem, sondern zeichnet sich auch durch seine Symbolik für die rätoromanische Sprache und Kultur aus. Dafür hat Not Vital einen scheinbar abgestorbenen Bronzebaum geschaffen, aus dessen Astenden die Lettern von T A M A N G U R wachsen.

 

Heidi Bucher

An der Wand hängt ein schwarzes, rechteckiges Latexfragment von Heidi Bucher.

Die 1993 verstorbene Konzept-Künstlerin und Plastikerin Heidi Bucher ist mit ihren Häutungen von Räumen bekannt geworden. In ihnen hatte sie ihr unverkennbar eigenes Ausdrucksfeld gefunden. Im Film von George Reinhardt «Räume sind Hüllen, sind Häute» sieht man Heidi Bucher die Holztafelwände und Parkettböden ihres Elternhauses in Winterthur, mit Gaze auskleiden und mit dickflüsigem Latex bestreichen. Sobald sich dieses verfestigt hat, reisst sie die Textil-Latexhäute unter grossen körperlichen Anstrengungen ab und reibt sie mit Perlmutterpigmenten ein. Im Prozess des Häutens lebt sie den schmerzvollen Loslösungsprozess von alten Bindungen, etwa die Loslösung von Konventionen und anderen fremdbestimmten Zwängen, nach. Sie erlebte diesen Prozess aber auch als Ekstase.

 

Meret Oppenheim

Eine Künstlerin, die sich auch von allen Konventionen und Bindungen zu befreien suchte, war Meret Oppenheim. Hier sehen Sie eine Zeichnung von 1985, die eine gesichtsartige Schneelandschaft hervorzaubert und wie eine Erscheinung wirkt. Meret Oppenheim war eine der bedeutendsten surrealistischen Schweizer Künstlerinnen. Auf eine ungeheuer fantasievolle Weise verfremdete sie banale Objekte, und arbeitete mit der Technik des «Cadavre Exquis». Diese Technik, die das Bewusste mit dem Unbewussten verbindet, bleibt stets in Meret Oppenheims Werken einbezogen. Die sogenannte Wirklichkeit oder das, was wir dafür halten, erhält in ihren Werken oft eine unheimliche Note, weil die Künstlerin ihr unbekannte und überraschende Dimensionen verleiht.

 

Pablo Picasso

Oben, zwischen den beiden Fenstern blickt ein urtümlich wirkendes Gesicht mit leuchtend blauen Augen auf Sie herab. Der Keramikteller mit einem ornamentierten, teilweise reliefierten Tellerrand stammt von Pablo Picasso. Wenig bekannt ist, dass Picasso ein bedeutendes keramisches Werk hinterlassen hat. Daniel-Henry Kahnweiler, sein Kunsthändler, stand dessen Keramikarbeit zunächst ablehnend gegenüber. Im Laufe der Zeit bemühte er sich allerdings, die Keramik Picassos nicht mehr als angewandte Kunst, sondern als Synthese aus Malerei und Skulptur zu interpretieren. Es wird davon ausgegangen, dass Picassos keramische Arbeiten als Teilaspekt seines Gesamtwerks zu betrachten sind. Denn in diesen Arbeiten manifestiert sich das Spannungsverhältnis zwischen Bild und Gegenstand, das Picasso seit dem Kubismus immer wieder interessierte. Es faszinierten ihn vor allem Werke der archaisch-antiken Keramiktradition, die hauptsächlich im Louvre-Museum aufbewahrt sind. Die künstlerische Tätigkeit mit Keramik nahm Picasso sporadisch bis zu seinem 90. Lebensjahr, immer wieder auf. Er schuf mehr als 4000 keramische Unikate, wovon 633 als Vorlagen für limitierte Serienauflagen dienten.

 

Joseph Beuys

Not Vitals Werk ist nicht einfach zu verstehen. Es verhält sich oft geheimnisvoll und ist von einer spröden Eleganz. Doch wer sich darauf einlässt, seine Zeichen, Formeln und Architekturen wie Spiele zu erklären versucht, erkennt, dass es Verwandtschaften mit dem Werk von Joseph Beuys aufweist. Die hier präsentierte Lithographie zeigt Beuys mit einem Mikrophon in der Hand und auf seiner linken Schulter sitzt ein wahrscheinlich ausgestopfter Hase mit dem Kopf auf Beuys gerichtet. Es scheint, als würde der Hase ihm aufmerksam zuhören. Zweifellos spielt die Arbeit auf eine Aktion von Beuys im Jahre 1965 an; sie nennt sich «Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt». Bekanntlich hat neben anthroposophischen und alchemistischen Einflüssen ein unmittelbarer Umgang mit Tieren sein gesamtes Schaffen begleitet. So fand Beuys etwa Inspiration bei Naturreligionen oder im Tierreich, wofür beispielhaft die Hasen oder Hirsche früherer Zeichnungen, performative Handlungen mit Ritualcharakter oder Aktionen stehen. Gemäss den Worten von Joseph Beuys fördert «die Idee, einem Tier etwas zu erklären, den Sinn für das Geheimnis der Welt und der Existenz. Noch ein totes Tier bewahrt stärkere Kräfte der Intuition als manche menschlichen Wesen mit ihrem unerbittlichen Rationalismus.» Auch Not Vital lässt sich immer wieder von archaisch-mythischen Sinnzusammenhängen anregen, um sie in surreal-traumhafte Objekte oder Installationen zu verwandeln.

 

Otto Freundlich

Croquis – Etude pour une encre ou une gravure sur bois, 1936/1939

Not Vital schätzt den schon lange verstorbenen Künstler Otto Freundlich überaus. Dieser war ein Pionier der Abstraktion. Kaum ein Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich so leidenschaftlich mit den unterschiedlichen Strömungen der Kunst auseinandergesetzt. Persönliche Bekanntschaft, oft auch Freundschaft verband Otto Freundlich mit den führenden Künstlern fast aller Strömungen der Avantgarde wie Expressionismus, Kubismus, Dadaismus, Bauhaus und den Abstrakten. An gegenseitiger Beeinflussung hat es nicht gefehlt. Und doch verfolgte Freundlich mit seinen Gemälden und Skulpturen, mit seinen Mosaiken und Glasmalereien einen ganz eigenen Weg.

 

Naum Gabo

Diese Entwurfsstudie stellt eine konstruktivistische Maschine von 1950 dar. Gezeichnet hat sie der russische konstruktivistische Bildhauer, Maler, Architekt und Designer Naum Gabo. Gemeinsam mit seinem Bruder Antoine Pevsner veröffentlichte er 1920 in Moskau das sogenannte Realistische Manifest, das in der folgenden Aussage gipfelt: «Die Vergangenheit lassen wir wie einen Kadaver hinter uns. Die Zukunft überlassen wir den Wahrsagern. Wir ergreifen das Heute.»

In ihrer Streitschrift stellten die beiden klar, dass Raum und Zeit die einzigen Kategorien seien, die unsere Realität formen. Sie sollten darum auch die Kunst bestimmen. Farbe, Linie und Volumen lehnten die Brüder als Gestaltungsmittel ab, dienten sie doch nur einer nachahmenden Beschreibung der Welt. Für Naum Gabo und Pevsner war dagegen die Kunst, egal wie abstrakt, nur dann«realistisch», wenn sie nur ein echter Bestandteil des Lebens wäre. Sie forderten eine eigenständige Kunst, die mehr sein sollte: nämlich die Vision einer alles umfassenden neuen Gesellschaftsordnung. Naum Gabos später weltberühmten Plastiken aus transparenten Kunststoffen wirkten auf seine Zeitgenossen wie Science Fiction, und noch immer vermögen sie, junge Kunstschaffende zu inspirieren.

 

Hauptmannszimmer: Geschichte

Nach dem Verlassen des Speisesaals sind wir nun im Hauptmannszimmer angekommen. Zur Zeit der freien Herrschaft Tarasp diente es als Gerichtsstube. Der Raum besticht durch eine Vertäferung der Wände und der Decke, die im Schloss Enn bei Montan im Tirol erworben wurden. Der ausladende Renaissanceschrank mit Motiven einer damaligen Palazzofassade stammt aus Florenz. Die meisterhafte Arbeit geht auf das Jahr 1576 zurück. Ein ebenfalls wahres Prunkstück stellt der Kandelaber aus Murano dar.

Beachtenswert sind die Fotografien aus Not Vitals Sammlung:

Hier erkennen Sie eine Ansicht der Pyramiden von El-Geezeh aus Südwesten von Francis Frith um 1857. Der englische Fotograf entwickelte seine Fotografien mit dem Collodion-Verfahren, welches in einer heissen und staubigen Umgebung einen grossen technischen Fortschritt darstellte. Francis Frith war Gründungsmitglied der Liverpool Photographic Society und wurde durch seine Aufnahmen aus dem Orient und vieler britischer Städte berühmt. Später gründete er den wahrscheinlich ersten Fotoverlag der Welt. Die Frith Book Company in Salisbury hat in den 1990er Jahren begonnen, die Aufnahmen der Firma Francis Frith & Co. in einer Reihe von Fotobüchern zu edieren. Sie sind nach Städten, Flüssen, geografischen Regionen und anderen Rubriken geordnet.

 

Werner Bischof

Die schwarz-weiss Fotografie «On the road to Cuzco» hat Kultcharakter. Sie zeigt einen Flöte spielenden Jungen mit einem Bündel auf dem Rücken. Werner Bischof hat sie 1954 gemacht kurz vor seinem tödlichen Autounfall in den peruanischen Anden.

Der Schweizer Fotograf gilt als einer der wichtigsten und herausragendsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Er war ein Meister der Schwarzweiss-Fotografie und sein gewaltiges Werk schuf er in sehr kurzer Zeit. Seine Arbeit als Fotojournalist und Dokumentarist des Zeitgeschehens führte ihn um die halbe Welt. In den 1940er Jahren arbeitete er in seinem Fotostudio «Fotografik» und wurde dabei stark durch die Bewegung «Neues Sehen» beeinflusst. Nach dem Zweiten Weltkrieg reiste er durch Europa und schuf eine umfassende Dokumentation über die Zerstörung und den Wiederaufbau Europas nach dem Krieg. Während der frühen Zeit des Fotojournalismus publizierte Bischof in den bedeutendsten Magazinen der Welt und wurde Mitglied der legendären Fotografenagentur Magnum Photos. Auf seinen Reisen durch asiatische Länder in den frühen 1950er Jahren distanzierte er sich von der reinen Auftragsfotografie und widmete sich zunehmend freien Arbeiten.

 

Im Flur können Sie etliche Exponate von Not Vital und seinen Künstlerfreunden entdecken:

Beachten Sie als erstes die Papierarbeit «Stella» von Gilberto Zorio. Auf einem monochromen Hintergrund hebt sich ein terrakottafarbener Stern ab.

Gilberto Zorio ist ein italienischer Bildhauer, Performance- und Installationskünstler und wichtiger Vertreter der italienischen Arte Povera. Sterne sind ein häufiges Motiv seiner Arbeiten. Das Ziel seiner sowohl zwei- wie auch dreidimensionalen Kunst ist es, durch Spannung mentale und physische Energien sichtbar zu machen. Zorio versucht Installationen zu schaffen, die Energien aufnehmen und speichern können und sie dann wieder abgeben. Die bestimmenden Charakteristika seiner Arbeiten sind Kraft, Bewegung und Wachstum.

 

Zum 100. Geburtstag von Not Vitals Mutter schuf Richard Long 2016 die Papierarbeit «A Walk of Hundred Miles for Maria Vital Fontana Manzoni». Diesen Tag würdigte der Künstler, indem er 100 Meilen spazierte und dies wie üblich fotografisch und textlich dokumentierte. Seiner vergleichbaren Papierarbeit «Engadin Circle» sind wir schon in der Soldatenküche begegnet.

 

Not Vital: Snowballing the Giraffe, 1997, Hydrokalk und Knochen

Es macht den Eindruck, als habe Not Vital hier eine Giraffe mit Gipskugeln derart beworfen, dass sie unter der Wucht der Geschosse zusammengebrochen und verenden musste. Daraufhin hat der Künstler sie in geübter Manier gehäutet und ihren Schädel als Erinnerung an diese Aktion an die Wand gehängt. Er ist wie eine Jagdtrophäe oder ein Totem, jedenfalls wie ein kostbares und magisches Objekt präsentiert. Not Vital spielt so auf den menschlichen Umgang mit Tieren und den Kreislauf von Leben und Tod an.

 

Mit dem schräg gegenüber stehenden Schlitten von Salvatore Scarpitta würdigt Not Vital einen Freund und Mentor. Als er nämlich ganz jung nach New York kam, war er Scarpittas Assistent. Das Objekt heisst «Dalton Sled» und stellt einen künstlichen, nicht funktionalen Schlitten dar. Herausgerissen aus dem Dialog mit seiner unmittelbaren Umgebung, vermittelt er eine architektonische Struktur in malerischer Form. Denn der Schlitten stellt den Bezug zu einer weit zurückliegenden Vergangenheit her. Er verkörpert Flucht, Aufbruch zu unbekannten Orten und Rückkehr zur Basis. Scarpittas berühmte Schlitten wurden erstmals 1975 in der legendären Galerie Leo Castellis in New York ausgestellt. Es sind natürliche und künstliche, einzelne oder gebündelte Schlitten, zusammengebaut aus Leintüchern oder Hockeystöcken, Skiern, Sesselteilen oder Bandagen. Verbunden sind sie mittels in Harz und organischen Farben getränkten Bändern. Die Idee zu seinen Werken mit Skiern und Schlitten scheint sich aus der Erinnerung an einen Priester zu speisen, den Scarpitta in der Zeit des Widerstandes der Partisanen in den Abruzzen kennenlernte. Schon zuvor hatte ihn der Schlitten als Teil des Kulturgutes der amerikanischen Ureinwohner animiert, als er mit seinem Vater in Indianerreservate nach Arizona, Colorado und New Mexico reiste.

 

Not Vital, Fuck you, 1991-92 und Fuck off, 2009,

An je einem Gangende hängt oberhalb der Pforten ein Hirschgeweih aus Bronze, an dessen Enden und Verzweigungen die einzelnen Buchstaben des Kraftausdrucks FUCK YOU und FUCK OFF geformt sind. Nicht gerade ein Hoch auf die Jagd, die von den ehemaligen adeligen Schlossherren gewiss mit Enthusiasmus zelebriert und ausgeführt wurde!!

 

Das elegante Treppenhaus besticht durch eine meisterhaft geschnitzte Renaissanceholzdecke, die aus einem Tiroler Kloster stammt. Eingefügt sind die Inskriptionen der Namen aller Schlossbesitzer.

Ob dem Absatz hängt ein prächtiger flämischer Gobelin aus dem 17. Jahrhundert. Die Szene darauf stellt König David dar, dem die Krone Sauls überbracht wird. Er wird begleitet von bewaffneten Männern in mittelalterlicher Kleidung, während links im Bild noch Kämpfe wüten und im Hintergrund ein bewaffnetes Heer in Anmarsch ist. Er ist in einer kunstvollen Bildwirkerei gehalten, die sowohl die Technik des Einwirkens von Bildern und Motiven in ein textiles Flächengebilde als auch das Erzeugnis dieser Technik, die Tapisserie bezeichnet. Die Gobelins hatten neben der schmückenden auch verschiedene praktische Aufgaben zu erfüllen. Neben einer Wärmedämmung und einer atmosphärischen Bereicherung halfen sie, die Akustikprobleme in weiten, hohen Räumen zu lösen. Abgesehen davon hatten viele mittelalterlichen Tapisserien bedeutende didaktische Funktionen; so forderten sie implizit auf, ein Leben nach höfisch-ritterlichen Idealen zu führen.

 

Aussenskulpturen um Schloss Tarasp

Im Park rund um das Schloss befinden sich Interventionen, die sich in die beeindruckende Atmosphäre der historischen Anlage einfügen. Die magischen Werke von Not Vital entspannen einen Dialog zum etwas aus der Zeit gefallenen Charme des Schlosses.

Not Vital, Pelvis, 2008

Mit den Kleinskulpturen Pelvis knüpft der Künstler wiederum an seine Auseinandersetzung mit Tiermotiven an. Das Anordnen von identischen Arbeiten zu einer Gesamtinstallation ist ein typisches Merkmal in Vitals Schaffen. Pelvis eröffnet unbeschränkte Assoziationsräume und lässt die in der westlichen Zivilisation verbreiteten Berührungsängste mit Tod und Verfall physisch spürbar werden. Wie viele von Not Vitals Arbeiten erscheint auch die in Edelstahl gefertigte Plastik Pelvis wie ein Totem, in dem körperliche Sinneskräfte ruhen.
Die Kunst ist für Not Vital eine Art Amulett, das Energie ausstrahlt, und die dank dem Künstler auf die Betrachtenden übergeht. Der Künstler ist also ein zeitgenössischer Schamane, wie es Joseph Beuys exemplarisch vorgelebt hat. Der Künstler-Schamane schafft Werke, die zum Leben anregen und die verdrängte tierische Natur des Menschen offenbaren.

Bâton, 2007, Aluminium

Von weitem können Sie den dünnen, elf Meter langen Aluminiumstab erkennen, der in die Höhe ragt. Zum Bild von Not Vital als Künstler-Nomade gehört als Attribut dieser Wanderstab; als treuer Begleiter und Stütze oder als Quelle von Kraft und Halt. Da ist es naheliegend, dass der Künstler einen hohen Holzstab, den er 2009 herstellte, «Father» nannte. Oftmals sind Wanderstäbe am Knauf mit Köpfen von Krafttieren wie Bären, Drachen, Wölfen oder auch Totenköpfen ausgestattet. Mit ihnen oder auch mit Zauberstäben erhoffte man sich, den Blick in die beseelte Natur zu eröffnen. Bei Not Vital ist diese Assoziation insofern naheliegend, als in seinen Werken die in der Tiefe wirkenden Energien und irrationalen Zusammenhänge der Natur wesentlich mitspielen. Sie dienen der Schärfung seines Blicks auf die Welt, der alles zu Kunst werden lässt.

 

Not Vital, House to Watch the Sunset, 2018, Beton

Am Fusse des zum Schloss hinaufführenden Weges, steht eine Betonversion der Skulpturenserie «House to Watch the Sunset» von Not Vital. Dieses Projekt erinnert an den «Kleinen Prinz» von Saint-Exupéry, zumal Not Vital seinen ersten Sonnenuntergangsturm 2005 ausserhalb der saharauischen Marktstadt Agadez in Niger aus Lehm baute. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der Kleine Prinz bei seinem erstmaligen Besuch der Erde in der Sahara landete. Eng verbunden mit den Rhythmen der Natur, stellen Not Vitals «Houses to Watch the Sunset» eine Einladung zum Träumen dar. Sie reflektieren die aussergewöhnlichen Qualitäten ihrer Umgebung, sind in die Gemeinschaften integriert, in denen sie gebaut werden, während sie den Menschen vor Ort Arbeit geben. Angetrieben vom Impuls, Schutzräume zu bauen, ist Not Vital die Auseinandersetzung mit den räumlichen, ökonomischen und kulturellen Kontexten von Wohn- und Arbeitsstätten wesentlicher Bestandteil seiner Arbeit. Wie alle seine Werke sind auch diese mit formaler Strenge und einer minimalistischen Ästhetik konstruiert.

 

Sol Lewitt: Progression, 2000, Betonsteinstruktur

Auf den ersten Blick könnte diese abgetreppte Betonsteinstruktur von Sol Lewitt eine weitere Variante von Not Vitals «Sunset»-Türmen darstellen. Auch Sol LeWitt begann schon früh dreidimensionale Strukturen zu schaffen bis hin zur Form von Türmen und Pyramiden. Er gilt weithin als einer der wichtigsten und einflussreichsten Künstler der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Laufe seiner mehr als 40-jährigen Karriere schuf Sol LeWitt auf der Basis des Würfels Strukturen in unzähligen Variationen, meist in Serien. Lewitt war eine Schlüsselfigur der minimalistischen Kunst, indem er Linien, Formen, Blöcke und andere einfache Elemente verwendete. Massgeblich spielte er aber eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Konzeptkunst. Ganz im Gegensatz zu Not Vital glaubte er, dass nur Konzepte und Ideen die Substanz der Kunst bilden können.

 

In: Texte für Audioguide Schloss Tarasp Fundaziun Not Vital