DR.PHIl.I
KUNST- UND ARCHITEKTURHISTORIKERIN
AUTORIN
Laure Marville

Auf unsere zersplitterte Welt, gespalten in einen aufgeklärten, säkularisierten, extrem materialistischenTeil und einen religiösen Fundamentalismus, antwortet die Genfer Künstlerin Laure Marville mit einem farbenfrohen, vielfältigen, frisch wirkenden OEuvre.

Laure Marville zeigt kunsthistorischen Kategorien gegenüber keinen Respekt. Dies hält sie nicht davon ab, mit heterogenen Zeichen, Zitaten und Texten fröhlich zu jonglieren, sie zu sampeln und zu kompilieren. Textile Flächengebilde undLinolschnitte mit eingravierten Texten kombiniert sie zu dichten Kompositionen, die sie Moodboards nennt. Neben Arbeiten auf Papier, Gravuren, Postern und Textilgebilden leuchten die patchworkartigen Arbeiten in den Farben pink, orange, gelb über diverse Blau-, Grün- und Brauntöne bis zu grau und schwarz. Die Patchworks bestehen aus Flicken und Streifen aus gepolstertem Stoff, Wolle, Linolschnitten oder Kunstleder. Sie werden überlagert und durchzogen von einzelnen, teilweise von Hand gestickten Worten, Sätzen oder längeren Textauszügen, die direkt in Linoleum- oder in Holzplatten eingraviert sind. Diese Werke oder gewisse Teile von ihnen können wiederum als Repertoire für weitere Werke dienen. So sind zum Teil ganze Partien aus Zeichnungen hervorgegangen, die eingescannt und für die Drucke vergrössert wurden. Die Masse variieren von überdimensionalen bis zu kleinen, kreisrunden, mit gepolstertem Stoff versehenen Textilarbeiten, den sogenannten Dots (ab 2016).

Vielfältigste Referenze

Die Künstlerin bewegt sich in einem Universum aus vielfältigsten Referenzen, die von ihrem Interesse an Popmusik, Filmen, Tattoos, philosophischen Schriften von Edgar Morin und Nicolas Bourriaud, Äusserungen von Audre Lorde, den satirischen Romanen von Nancy Mitford bis zu den Statements von Jenny Holzer herrühren. Reihenweise Bezüge enthältzum Beispiel Le collectionneur (2017). Vor hellblauem Hintergrund sind fünf umherwirbelnde, abgetrennte Köpfe dargestellt. Sie referieren auf Sagen der Samurais. In Kriegszeiten oblag es diesen, für ihre Lehensherren Feinde zu köpfen, und die Köpfe den Fürsten zu präsentieren. Das Motiv der abgeschlagenen Köpfe, sogenannte Namakubi, ist in der japanischen Praxis des Tätowierens beliebt, besonders unter den Yakuza, der japanischen Mafia. Es dürfte zu den frühesten Motiven in der japanischen Tätowierkunst zählen – werden mit diesem Tattoo doch Mut, Furchtlosigkeit und Respekt vor Feinden ausgedrückt, mitunter kann es aber auch als Warnung verstanden werden. Messer im Schädel deuten an, dass der Verstorbene besonders verhasst war. Das Besondere an den Namakubi ist, dass es sich nicht lediglich um den leblosen Kopf eines Toten handelt, sondern damit eine oszillierende Existenz zwischen Tod, Künstlichkeit und aufglimmendem Leben beschworen wird.

Nicht minder gespenstische Elemente thematisiert die Arbeit The Loglady (2017). Sie bezieht sich direkt auf eine Person, die in der Twin-Peaks-Kultserie von David Lynch und Mark Frost vorkommt. Sie ist eine reife Frau, die ständig ein Holzscheit in der Hand hält, welches ihr Vorhersagen ermöglicht. Derart entwickelt die Frau sibyllinische Züge, ihre Fähigkeit lässt sich mit der einer Orakelbefragung vergleichen.

Ambivalent und komplex

So manövriert Marville zwischen «high» und «low» mit Reminiszenzen an die Street Art. Geometrische und abstrakte Motive, komplexe Kombinationen von ornamentalen, gemusterten und gescheckten, zum Teil schachbrettartigen Formen und S-förmigen Schlenkern verbinden sich mit einem System wiederkehrender Themen, Motive und Werkfragmenten aus oft mit Stickereien geschmückten Textilarbeiten. Verschiedentlich sind die Oberflächen mit mehr oder weniger ausführlichen Texteinsprengseln beschriftet: Namen von Freunden und  andere wie «Hortense», «Laetitia», «Sophie & Alois»; Sentenzen wie «Layers of Lies» oder«Elegance is Resistance». Geständnisse wie «If any of you cry at my funeral I will never speak to you again» oder «I will be intelligent, cultivated, a little bit out of touch» sowie ausführliche Lesenotizen erinnern an Tagebucheinträge. Obgleich Laure Marville persönliche Vorlieben hegt, ist aus ihrer Sicht jegliche Produktion beachtenswert, solange sie eigen, reflektiert und authentisch ist. Darin fühlt sie sich von derTextsammlung  Wie man eine Wohnung einrichten soll  (hg. Von Peter Stuiber, Wien 2008) von Adolf Loos (1870­1933) über Stilfragen, guten oder schlechten Geschmack und Identität bestärkt: «Insbesondere bringt er die Idee der Innenausstattung als einer Identitätsbildung hervor. Sie soll untrennbar mit der Lebenserfahrung, dem Engagement und der Persönlichkeit desjenigen verbunden sein, der sie geschaffen hat und/oder dort lebt.» Dieses Zitat von Laure Marville verdeutlicht, dass sie lediglich Kunstwerke, die sich dem Kunstmarkt anbiedern, für unverzeihlich hält.

Vor kurzem ist Laure Marville aus Moskau zurückgekehrt, wo sie für drei Monate Stipendiatin einer Künstlerresidenz der Pro Helvetia war und voller Elan in den Räumen des Fabrika Project an der Perevedenovskiy Pereulok Moskau noch eine Ausstellung ausgerichtet hat. Mittlerweile wurde sie mit dem «Shizuko Yoshikawa» Förderpreis für junge Künstlerinnen ausgezeichnet. Zu Recht wurde ihre Beziehung zwischen dem gekonnten Umgang mit Materialien und ihrer frisch wirkenden Kunst gewürdigt. Sie arbeitet mit grossem Engagement, sehr reflektiert und mit neugierigem, offenem Geist. Es ist verständlich, dass die Eindrücke aus der Moskauer Zeit noch nachwirken. Laure schnitt und ritzte mehr oder weniger ausführliche Texte und Zitate, die sie an Hausmauern in Moskau vorfand, auf Linoleumplatten ein. Ihre Arbeit mit Texten, Sprichwörtern, Gleichnissen hat seit ihrer Moskauer Zeit an Format gewonnen, und ihre Sprache ist härter und intensiver geworden. Die Linoleumplatten dienen ihr als Instrument; sei es, dass sie diese in andere Arbeiten integriert, sei es, dass sie verschiedene Platten übereinander lagert. Die Text-, Textil- und Linoleumschichten sind so miteinander verwoben, dass sie einen rhizomartigen Raum bilden. Auch russische Textilmanufakturen inspirierten Laure Marville ausgesprochen, so die Pavlovsky-Posad-Schal Manufaktur», die Ivanovo-Textilfabrik Galanteriynaya und das Russische Museum für dekorative, angewandte und Volkskunst. Das Letztere besitzt wunderschöne Kollektionen der Textilkunst, die vielfach florale und figurative Motive zeigen.

In den neuen Arbeiten verwendet die Künstlerin vermehrt diese floralen und figurativen Muster. Noch mehr als in ihren früheren Werken gehen Struktur und Zufall eine kongeniale Verbindung ein. Dies mag mit ein Grund sein, weshalb Laure Marvilles Werke nur schwer definierbar sind. Sie sind es auch, weil sie ambivalent in ihrer Materialität, in ihrem Marktwert und in ihrer permanenten Wiederverwendung sind.

Wenn dem französischen Kunstkritiker Nicolas Bourriaud (*1965) zufolge die Kunstschaffenden des stilkombinatorischen Pluralismus sich über eine Form des Wissens definieren, das Wege erfindet, um das kulturelle Spektrum zu durchqueren, so macht Laure Marville diese Wege sichtbar. Im Geiste von Bourriaud, der Ende der 1990er-Jahre den Begriff «Relationale Ästhetik» (Esthétique relationnelle, Paris 1998) für eine neue Kunstströmung prägte, in der die zwischenmenschliche Begegnung ins Zentrum rückt, konzentriert sich die Künstlerin auf das Kommunikative als Intertextualität und Wechselspiel der Materialien in ihren Arbeiten.In der unübersichtlich gewordenen Welt gewinnt die erneute Frage nach dem «Wir» zunehmend an Bedeutung und die Frage nach der Identität, die dieses «Wir» konstituiert. Antworten darauf findet die Künstlerin in den Schriften des französischen Philosophen Edgar Morin (*1921), der einen Bogen von der Natur über das Menschsein bis zur Ethik und Politik spannt. Als Vordenker der Systemtheorie plädiert er für eine Reform des Denkens und damit dafür, die Komplexität aller Natur- und Lebensbereiche zu erkennen und auszuarbeiten. Mit der Entstehung von Ereignissen oder multidimensionalen, interaktiven Objekten mit zufälligen Komponenten sind wir gezwungen, eine Strategie des Denkens zu entwickeln, die nicht einfach oder totalisierend, sondern eher reflexiv ist. Morin, für den die Berücksichtigung von Heterogenität und die unterschiedliche Kausalität wichtig war, nennt diese Fähigkeit komplexes Denken. (Die Methode. Die Natur der Natur, hg. von Wolfgang Hofkirchner, Wien/ Berlin 2010, S. 152-154).

Diese Komplexität auch der Gesellschaft spiegelt sich in den Arbeiten von Laure Marville wider, die formal die nichtlineare Struktur des Internets und unsere assoziative Verarbeitung von Daten, Zahlen und Fakten wiedergeben. Das Unübersichtliche herrscht vor. Kompositionsfragen spielen keine grosse Rolle; vielmehr deutet die Äusserung «Ce qui est tissé ensemble» auf das Weben als visuelle Metapher des Schreibens hin. Laure Marville webt an ihrem OEuvre aus Sprache, Sentenzen, Patches, Stickereien, Gravuren und vereint die gegensätzlichsten Materialien. Die Arbeiten erfreuen, gefallen, inspirieren, irritieren, erzählen Geschichten, verkünden immer wieder Utopien in Zeiten, in denen sich das Utopische verabschiedet hat. Da spricht der Künstlerin Audre Lorde (1934-1992), eine US-Schriftstellerin und Aktivistin, deren Einfluss auf die afroamerikanischen, feministischen und queeren Bewegungen immer noch ausserordentlich lebendig ist, aus dem Herzen. An die Wand eines Raums im Fabrika Project kritzelteLaure Marville anlässlich ihrer Ausstellung handschriftlich mehrere Vorschläge und Ideen von Audre Lorde, welche sie in einem Satz zusammengefasst hatte: «She said that your silence won’t protect you, that revolution is not a one time event, that our feelings are our most genuine paths to knowledge, and that we must recognize and nurture the creative parts of each other without always understanding what will be created.»

Doch das Utopische drängt bei Laure Marville nicht ins Aktivistische, sondern ist eingebunden in ein vereinheitlichtes Gewebe, das zusammen mit formalen Kombinationen und Motiven den Charakter einer Synthese aufweist. Eine Synthese, die, um mit Edgar Morin zu sprechen, «die Einzelerkenntnisse wieder zu verbinden, und die Teile mit dem Ganzen und das Ganze mit den Teilen, die Beziehung des Globalen mit dem Lokalen und des Lokalen mit dem Globalen zu begreifen sucht» (Die Methode: Die Natur der Natur).

Broschüre Shizuko Yoshikawa Förderpreis für junge Künstlerinnen 2018