DR.PHIl.I
KUNST- UND ARCHITEKTURHISTORIKERIN
AUTORIN
Figurative Malerei des «Salons der Gegenwart» im Kunsthaus Elsau

Obwohl im 20. Jahrhundert unzählige Male für tot erklärt, ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts deutlicher denn je, dass die Malerei immer noch ungemein lebendig ist und als Medium auch für jüngere und junge Kunstschaffende eine wichtige Ausdrucksform bleibt. Ihre ungebrochene Vitalität ist ein Faktor, der sich auch im Kunstmarkt widerspiegelt; verzeichnet er doch seit einigen Jahren eine weltweite und massgebende Rückkehr zur gegenständlichen Malerei.

Die Ausstellung mit Vertretern des «Salons der Gegenwart» bestätigt die Freude und die Lust an der Malerei einmal mehr. Die Ausstellenden gehören zu einer losen, offenen Gruppierung von figurativ malenden Künstlern und Künstlerinnen, die in der Malerei, insbesondere der gegenständlichen, weiterhin eine wichtige Ausdrucksform der aktuellen Kunst sehen. In der Ausstellung treffen wir auf die verschiedensten künstlerischen Positionen wie Stillleben, Porträts, Landschaften, Wahrnehmungsräume, surreale oder eher illustrative und abstrakt-figurative Bildwelten, gestaltet in den unterschiedlichsten Techniken, Arbeitsweisen und Perspektiven. Die diversen Positionen bestätigen, dass die figurative Malerei eine der längsten Traditionen aufweist. Dies ermöglicht diesen Kunstschaffenden, auf ihre Vorgänger zu rekurrieren und den Faden weiterzuspinnen. Musste sich die Malerei anfänglich gegen Angriffe durch neue Medien – Fotografie, Video oder Computer – behaupten, hat sie ihre Aktualität ausgerechnet durch die Integration von neuen Medien bewahrt.

 

Die tradierte Zugangsweise der Malerei sprengt Robert Honegger mit vier Variationen von «Licht und Schatten auf Papier». Durch mechanisches Verformen von Papier hat er bewegliche Papierobjekte geschaffen. Sie verweisen auf Robert Honeggers Pop-up-Bücher, die sich beim Aufschlagen der Seiten bühnenbildartig entfalten und sich vor einem zweidimensionalen Hintergrund durch Blättern bewegen. Dabei bezieht sich der Künstler auf die Kunst des Faltens und Papierschneidens, wie sie im fernen Osten schon lange gepflegt wird. Er erweitert sie durch aufwendige Falt- und Schnitttechniken sowie durch Steindrucktechnik. Sehr poetisch mutet sein kinetisches Objekt an, welches

eine zwischen Himmel und Zürichsee schimmernde, bewegliche Silberküste imaginiert.

 

Die figurative Malerei ist alles andere als eine wieder aufflammende Mode. Die Moderne verlief von Anfang an in parallelen Strängen, sowohl in der grossen Linie der Abstraktion wie in derjenigen der Figuration, besonders in Osteuropa. Seit einiger Zeit werden gestische, nahezu abstrakte Bildteile mit figurativ-gegenständlichen Motiven kombiniert. Dies veranschaulicht Alex Bär mit linear definierten Figuren in einer aus abstrakten Farbfeldern angelegten Raumgestaltung.

Das weibliche Modell in «Maler mit blauer Linie», 2016, posiert vor einem blauen, atmosphärisch aufgeladenen Hintergrund. Sie umfasst einen undefinierten Gegenstand mit ihrer linken Hand, während der in einer dunklen Ecke stehende Maler sie porträtiert. In «Europäischer Seiltanz mit Hyäne», 2015, balanciert eine weisse männliche Figur mit weit ausholenden Schritten der pfostenähnlichen Beine über einem Seil, das in einer Manege aufgespannt ist. Der Schauplatz ist hell und lichtvoll, während der Bereich unterhalb des Seils von dunklen Blau-, Grau- und Rottönen beherrscht wird, so, als würde dort Bedrohliches lauern. Diese Komposition manifestiert gemäss Alex Bär die «richtigen Proportionalitäten von zwei Gegensätzen».

 

            Giampaolo Russo überrascht mit ungewöhnlich stark reduzierten Dachansichten seines Heimatdorfes Castrignano, 2021. Die Dächer sind nur noch als Silhouetten wahrnehmbar, bis sie sich in der Kohlezeichnung «Tetto Castrignano» vollends auflösen und in traumwandlerische Welten abdriften. Dank markanten und heftigen Strichführungen sind Energien und Kräfte spürbar, die in dieser Dunkelheit walten. Gleichnishaft wiedergeben sie das Ringen des Künstlers um die Essenz der dargestellten Motive.

Mit kräftigen Strichen umreisst Werner Ignaz Jans seine realitätsnahen Figuren schnörkellos und direkt. In einem expressiven Habitus stehen sie bald frontal da mit kantigem Gesicht, bald in kauernder Haltung in einen See oder in einen Spiegel blickend und ihr Konterfei betrachtend. Mit Schraffuren wird Räumliches angedeutet und den verletzlich wirkenden Figuren so etwas Halt verliehen. Im Gegensatz zu diesen existentiell, rein im Dasein ruhenden Figuren, rekurriert Kaspar Toggenburger auf tradierte biblische und kunstgeschichtliche Themen. Diese tauchen schon in den Kinderzeichnungen auf und beschäftigen ihn immer wieder. 1992 entstanden die erste Lithographien zu «Susanna im Bade» und «Salome». Die Holzschnitte mit dieser Thematik sind auf ihre typischen Erscheinungsmerkmale reduziert und zeichnerisch ausgeführt und in der klassischen Technik des Holzschnitts gehalten. Trotz der abstrakt gebildeten Bildstruktur sind die Figuren plastisch erfassbar. Derart prallen figurative und abstrakte, räumliche und flächige, grafische und malerische Elemente aufeinander.

 

Immer wieder begegnet man Tendenzen zum Narrativen; zu einer Bildkonzeption, die mehr an der Erzählung als am Formalen interessiert ist. Davon sprechen Maria Pomianskys illustrative, von flächigen Farbverläufen untermalte Raumvisualisierungen. In luftig-farbenfrohen «zeichnerischen Protokollen» zeigt sie Arbeitswelten, zum Beispiel von Kunstschaffenden im Atelier oder von Forscherinnen im Labor. Die mit leichten und schnellen Strichen ausgeführte Zeichnung «Atelierbesuch bei Lisian König», 2022, soll gemäss der Künstlerin die «Quintessenz einer Situation» wiedergeben. In einem Atelierraum erkennt man sie in Effigie mit aufgesetzter Sonnenbrille in kauernder Position. Daneben ist handschriftlich das Lebensmoto «Nichtstun ist die wahre Kunst der heutigen Zeit» auf der Wand festgehalten. In Verbindung mit dem objekthaft, aufrecht auf einem Sockel stehenden munteren, blauen Fisch ist das Lebensgefühl des «Carpe diem» sehr lebendig veranschaulicht.

Auch Rosina Kuhn erfreut sich beim Malprozess an der Kraft der Farben. Sie kann auf ein reiches, vielfältiges Werk zurückblicken, das von Einflüssen der Pop-Art über gestisches Malen bis zu gegenständlichem Porträtieren reicht. Befreit von jeglichem stilistischen Vorbild malt sie je nach Motiv bald figurativ, bald gestisch. Vor allem ist sie bekannt für ihre Porträts und Rückenansichten oder ihre Farblandschaften, die vielfach von einer menschlichen Figur ausgehen. Mit schlichten, farbigen und ausdrucksstarken Monotypien, 2019—2022, erfasst sie das Flüchtlingselend in verschiedenster Hinsicht, entweder als «Landung» eines überfüllten Bootes, als Anblick eines verlorenen kleinen Jungen in «Tito im Echo Park» oder im Abschätzen einer Situation am Meeresstrand in «Unterwegs».

 

Die Landschaftsmalerei und das Stillleben werden häufig eng mit der realistischen Kunst in Zusammenhang gebracht, auch wenn Landschaften in idealisierenden und surrealen Spielarten daherkommen oder als phantastische Metaphern unsere Sehnsüchte stillen. Andrea Pfister erfüllt traditionell anmutende Stillleben dank einer kräftigen Farbgebung mit greifbarer Sinnlichkeit und Frische. Auf angedeuteten Tischen sind aufgeschnittene Granatäpfel, in Vasen steckende Christrosen sowie andernorts ein Strauss mit Aprilglocken angeordnet. Die Kompositionen werden mit Gadgets gebrochen, so einem Spielzeugkrokodil, einem Spielzeugauto und einem kleinen Roboter.

Ercan Richter übersetzt Eindrücke einer ursprünglichen Natur in grossformatige Bilder oder Zyklen um. Seine Werke «Braunwald» und «Birke» von 2013 oszillieren in ihrer Konzentration auf Form, Farbschichten und Struktur aus kräftigen, schichtweise überlagerten Pinselstrichen zwischen Naturabbild und Abstraktion. Die Berglandschaften sind durchpulst von einer ungeheuren Wucht und Gewalt und einer energischen Kraft. Durch den ungewohnten Bildausschnitt, der wie ein Puzzleteil aus einem grösseren Ganzen entnommen scheint, gewinnen die Bilder einen hohen Abstraktionsgrad. In den Grossformaten ist das Vorbild der Landschaft noch präsent, in den kleineren Formaten geht es nur noch um Form, Farbe und Struktur — um Malerei pur. Im Gegensatz dazu zeichnet Werner Käser in «Sihlbord-Variationen», 2022, filigrane Ansichten von Bäumen mit schwarzer Tinte auf Papier. Die Stämme, Äste und die Blätter sind dermassen zart erfasst, dass der Eindruck entsteht, der Künstler habe ihr Nervensystem registrieren wollen. Geradezu üppig hebt sich davon der «Schneewald», 2021, von Christa Baumgartner ab. Die Äste der im verschneiten Boden dicht stehenden Bäume sind schwer mit Schnee beladen. Die Kohlezeichnung zeigt eine märchenhafte, verschneite Waldlandschaft und steht so singulär im Werk von Christa Baumgartner da. Denn mit Vorliebe konzentriert sie sich auf Stadtlandschaften, nachdem sie mit der Kamera bewaffnet, durch Städte flaniert ist und ganz bewusst Unspektakuläres fokussiert. Oft fesseln sie Motive, die im Zusammenspiel von Licht und Schatten aufleuchten, seien es Dinge oder Menschen im Gegenlicht, Spiegelungen in Pfützen oder im Rückspiegel eines Motorrads, ferner meteorologische Erscheinungen. Die Fotografien setzt Christa Baumgartner in Malerei um und unterzieht die Kompositionen einem Reduktionsprozess, welcher sich vornehmlich auf den Farbauftrag konzentriert.

 

Befragungen des Malprozesses

 

Im Zeitalter digitaler Bildmedien und Fotografie fragt es sich tatsächlich, was Kunstschaffende antreibt, auf dem mühevollen Erkenntnisvorgang über die Wahrnehmung und Inspirationsquelle, Konzepte, Kompositionsfindung, und über die rein materiellen Gegebenheiten nach einem Bildgegenstand zu suchen und ihn festzuhalten. Offensichtlich ist nicht die Nachahmung, die schnellfüssige Einbindung ins Gängige das Ziel, sondern das Ausloten dessen, was gegenständliche Kunst in der Gegenwart überhaupt sein und leisten kann im Dialog der künstlerischen Erkenntnisse.

Bei den historischen Avantgarden führte die Besinnung auf die Grundbedingungen der Malerei bekanntlich vielfach zu einer Reduktion der Mittel. Heute dagegen scheint sie eine Öffnung der Malerei zu bewirken; nämlich eine Öffnung hin zu anderen Medien wie der Fotografie, installativen Arbeiten oder der Skulptur. Geprägt durch die digitale Welt mit ihren kompromisslos perfekten Oberflächen

wird die Integration neuer Inhalte und Aspekte in die Malerei mit konzeptuellen Ansätzen bereichert. Sie erweitern das Feld der Malerei und bestimmen die Kunstentwicklung weiterhin entscheidend mit.

Worauf auch immer die Befragungen des Mediums hinauslaufen, scheint mir, dass eine bildliche Idee oder so etwas wie eine «Gedankenskizze» oder «Stimmungsskizze» oder das Umkreisen eines Motivs vor dem eigentlichen Malprozess vorhanden sein muss. Danach geht ja die Reise erst richtig los: malerische Komponenten entfalten eine Eigendynamik, die im Dienst der Materialisierung der Idee stehen und einen grossen Stellenwert haben. Ein Formenbau muss erarbeitet werden, der abgesehen von inhaltlichen Kriterien mit Stilbildung zu tun hat. Auch wenn es scheinbar nichts mehr zu finden oder zu erfinden gibt, so ist doch offenkundig, dass das Vorgefundene, das Erinnerte oder das Utopische wie Sehnsucht nach einer heilen, unbekannten oder unsichtbaren Welt ein unerschöpflicher Quell an Inspiration bergen. Dazu gesellt sich die Lust am Umgang mit dem Material und den Ausdrucksmöglichkeiten der Malerei und immer wieder schlicht und einfach am Malakt. Nicht zu vergessen die Freude an der physischen Präsenz des Erschaffenen, die alle Mühen kompensiert.

Ausstellungskatalog Kunsthaus Elsau, Edition Clandestin, 2022.