DR.PHIl.I
KUNST- UND ARCHITEKTURHISTORIKERIN
AUTORIN
Ellen Cantor

Vielleicht mag sich die Eine oder der Andere noch an den Skandal erinnern, welcher eine geplante Ausstellung von Ellen Cantor (*1961, Detroit — 2013) im Helmhaus im Oktober 1995 ausgelöste. Nachdem die Künstlerin in wochenlanger Arbeit mit Bleistift, Neonmarkern und Dispersion eine Art erotischen Lesben-Comic auf die weissen Wände gezeichnet hatte, befand der damalige Stadtpräsident Josef Estermann, dass die Kunst den «Tatbestand der Pornografie» erfülle. In der Folge wurde Cantors Ausstellung <Oh Pain Oh Life> gar nie eröffnet. Zum damaligen Unverständnis ihrer Kunst gegenüber, geboren aus einer zwinglianischen Prüderie, äusserte sich Helmhaus-Direktor Simon Maurer: «Ellen Cantor zeichnet sich durch ihren vielschichtigen Umgang mit dem Thema der Sexualität aus: Zugleich witzig und voll hartem, süssem Ernst bewegt es sich auf den viel verzweigten Erfahrungspfaden der Sexualität. Und sehnt sich paradox nach ewiger Jungfräulichkeit.» Schon ganz früh, als Cantor im berühmten New Yorker Chelsea Hotel wohnte, wo auch Patti Smith und Robert Mapplethorpe hausten, hatte sie zu ihrem Stil gefunden. Inspiriert vom Hollywood Kino und von Pornofilmen thematisierte sie mit Zeichnungen, Videoarbeiten, Fotografien und Texten immer wieder Darstellungsmöglichkeiten des weiblichen Verlangens. In bald zarten, bald heftigen Arbeiten, die sie oft zu «story board»-ähnlichen Erzählreihen verband, transformierte sie dieses ins Märchenhafte. Später wanderte sie nach London aus, zeigte ihre Kunst in vielen europäischen Städten. Ein Jahr nach dem Skandal präsentierte Nicola von Senger in seiner damaligen Galerie ars futura Cantors erotische, direkt an die Wand gezeichnete, mit Fotos, Collagen und Videos bestückte Bildergeschichten. Da dem Galeristen die Wandzeichnungen so einzigartig erschienen, wollte er sie unbedingt retten. Mit einer Säge trennte er die Wände sorgfältig heraus und rahmte die Zeichnungen unter Glas. Nach 23 Jahren hob er sie aus der Versenkung und präsentiert sie nun neben älteren Arbeiten. Sie bestechen durch einen tagebuchartigen Gestus. Die Figuren, Blumen und Ornamente erinnern an Comic- und Kinderzeichnungen, sind gestisch gehalten und oft hingekritzelt. Sie sind mit Notizen und scriptartigen, schablonenhaften Satzfragmenten kombiniert, und wiederspiegeln Cantors Gratwanderung zwischen dem Imaginären, dem Zauberhaften und dem Realen, dem Erotischen und dem Pornografischen, dem Intimen und dem Exhibitionistischen.

 

Galerie Nicola von Senger, Ellen Cantor, bis 26.10.2019       info@nicolavonsenger.com