DR.PHIl.I
KUNST- UND ARCHITEKTURHISTORIKERIN
AUTORIN
Corinne Güdemann — Bilder von anderswo

Beeindruckende Baumriesen strecken ihre schlangenförmigen Äste bald ins Bildinnere, bald dem Betrachtenden entgegen. Nimmt ein Baum mit knorrigem Stamm und auskragenden Ästen den Bildvordergrund ein, nehmen wir ihn als individuelles Wesen wahr. Wie wertvoll diese Individuen sind, sehen wir in einem Parkausschnitt, wo der Blick in den Bildhintergrund gezogen wird, und schlanke Baumpfosten die Äste stützen. Das Blau des Himmels wie auch Lichtstrahlen dringen vereinzelt durch das netzartige Geäst und bilden zitternde Lichtflecken auf dem dunkeltonigen, weichen und moosigen Boden oder spiegeln sich in brackigem Wasser. Fast schon spürbar ist eine grosse Stille und serene Ruhe, die von diesen im dämmrigen Licht stehenden Bäumen ausgeht.

Inspiriert zu diesen Baumdarstellungen ist Corinne Güdemann besonders seit ihrer Japanreise. Unter anderem besuchte sie Kanazawa, die Hauptstadt der Präfektur Ishikawa auf Japans zentraler Insel Honshu. Die Stadt ist bekannt für die gut erhaltenen Viertel aus der Edo-Ära, für Kunstmuseen und regionales Kunsthandwerk. In ihrem Zentrum liegt der geschichtsträchtige «Kenrokuen»-Garten. Angelegt im 17. Jahrhundert ist er berühmt für seine klassische, weitläufige Landschaftsgestaltung mit Teichen, Bächen und Brücken. Die Künstlerin war fasziniert davon, wie die Japaner ihre Bäume pflegen, hegen und diese stützen, wenn sie schwach werden. Diese Hingabe an die Bäume hat ihren Ursprung im Shintoismus, welcher Bäume als Sitz der Götter verehrt, zumal diese Religion ohnehin den Kräften der Natur und der innigen Verbundenheit, dem Sicheinsfühlen mit der Landschaft, den Pflanzen, Bergen, Gewässer und den Ahnen der Heimat huldigt. Galt der Wald auch bei unseren Vorfahren der keltischen, germanischen und slawischen Kulturen als heilig, sehen wir ihn heute vorwiegend als Ressource zum Ausbeuten. Wohl aus einem weit verbreiteten Verlustgefühl sind wir von Baumlandschaften enorm angezogen.

Die Naturorte sind menschenleer ganz im Gegensatz zu Güdemanns früheren Landschaftsmalereien, als stets menschliche Figuren präsent waren. Diese Abwesenheit evoziert ein «sich-selber-genügen» der Natur und mag bewirken, dass die Waldstücke zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Vertrautem und Rätselhaftem und zwischen Idylle und Bedrohung oszillieren. Der ambivalente Eindruck herrschte schon in der Bilderserie «Schwarzeis» von 2018 mit stimmungsvollen Winterbildern vor oder im grossformatigen Werk «Männer in Bäumen», 2016, mit silhouettenhaften, in Bäumen stehenden Männerfiguren. Obwohl von Figuren belebt, sind diese Kompositionen von Melancholie und einem diffusen Gefühl von Einsamkeit erfüllt. Dies ist wohl auf das Zusammenspiel von diversen Grautönen zurückzuführen, das eine Dämmerung evoziert, und dessen Stimmung durch die lasierende Malerei verstärkt wird.

Corinne Güdemann setzt dünne Farbschichten auf die vorgrundierte Leinwand oder den Sperrholzträger. Die Leichtigkeit der Technik spiegelt sich im Motiv wieder, so wenn in den Baumbildern die hellen Sonnenflecken über die Leinwand tanzen und sich ein Spiel von Licht und Schatten entfaltet. Ausgehend von Skizzen oder Fotografien überträgt die Künstlerin die Motive auf die mit einzelnen Flecken zuvor bedeckte Leinwand. Ausgehend von den Flecken sucht die Künstlerin diese mit linearen Konfigurationen zu verbinden, und dafür adäquate Formen zu finden oder sie auch als abstrakte Felder stehenzulassen. Damit gerät die Künstlerin in die Nähe der japanischen Ästhetik, welche ausgesprochen auf das Verhältnis zwischen Form und Nicht-Form achtet und grosse Flächen absichtlich unbemalt lässt. Diese Methode zeigt die Serie mit den Baumlandschaften geradezu exemplarisch, insofern nachvollziehbar wird, wie die Künstlerin um eine Ausgewogenheit zwischen reiner Malerei und gegenständlichen Motiven ringt. Die Vorzeichnung der Bäume und ihr lineares, netzförmiges Geäst sind mit Kohlestift definiert, der nur noch an wenigen Stellen zu sehen ist, während viele lasierende Schichten in Öl auf Baumwolle aufgetragen sind. Dank dieser Technik scheint sich etwa der Stamm des «Laokoon Baums» und die teilweise gebrochenen Äste partiell dank Lichteffekten aufzulösen. Die Komposition «grosser Baum» wiedergibt gar den durch den Lichteinfall geblendeten Blick, indem das durch die verzweigte Krone dringende Licht den Stamm und seine Hauptwurzel in helle Flecken auflöst. Die Stämme, Äste, die Blätter und der Himmel, Wasser und Licht bilden ein dichtes, ornamental anmutendes Geflecht von weissen, gelben, blauen und dunkeltonigen Fleckenformationen, die schillernd ineinander übergehen. In «Park» nimmt das weit verzweigte Geäst eines Baumes den Vordergrund ein, während die das Geäst stützenden Holzpfähle im Wasser stehen. Durch ihre rhythmische Anordnung wird der Blick in die Tiefe geführt. Das Wasser spiegelt den Himmel, die Pfosten und das Geäst und löst das Bildgeschehen da und dort in abstrakte Flächen auf.

Spiegelungen sind auch Thema der kleinformatigen Werkgruppe, die neben Hotelzimmern Hausfassaden, Vitrinen und Schaufenster darstellen. Mit ihnen spürt die Künstlerin Atmosphärisches auf, auch poetische oder irritierende Momente in alltäglichen Begebenheiten. Zu dieser Sichtbarmachung sind die Spiegelungen in den Schaufenstern äusserst geeignet; werfen sie doch wie in «Samurai», in «Schaustück» oder in «Puppen – Palermo» den Blick oft auf den Aussenraum und entspannen ein vertracktes Spiel mit diversen Perspektiven und divergierenden Betrachterstandpunkten. Zauberhaft und wie aus der Zeit gefallen, mutet das Bild eines kleinen, von Pflanzen und Büschen überwucherten Hauses an. Kaum zu glauben, dass es in einem kleinteiligen Wohnviertel mitten in Tokyo liegt. Sie warfasziniert von den chaotisch wirkenden Wohnvierteln mit kleinen baufälligen Wohnhäusern aus Holz oder Backstein, die mitten in Geschäfts- und Bankenvierteln mit ultramodernen, glänzenden Hochhäusern in äusserstem Kontrast koexistieren.

Seit etwa zehn Jahren verfolgt Corinne Güdemann die Motivkreise um Landschaften und Intérieurs, Hausfassaden und Schaufenster. Sie arbeitet prozesshaft und vornehmlich in Serien, oft im Wechsel von Zeichnung und Malerei. Die Linien und Striche sind zurückhaltend und unaufgeregt und der Pinselstrich ist bewusst geführt. Im Ringen um Bildlösungen und Formfindungen, um Wiedergabe von Gesehenem oder Erlebtem und dem Ausdruck reiner Malerei arbeitet sie in der Spannung von Abstraktionsprozessen und dem Gegenständlichen. Diese Spannung zwingt sie immer wieder zu Entscheidungen während des Malprozesses. Doch um eine Ausgewogenheit zwischen diesen konträren Haltungen geht es gemäss der Aussage von Corinne Güdemann nicht, sondern die Künstlerin hält ein Werk dann für gelungen, wenn ihm etwas Vibrierendes innewohnt.

Sam Scherrer Contemporary,  Zürich, Ausstellungskatalog «Corinne Güdemann — Bilder von anderswo», 13. bis 27. März 2021